Das Geheimnis der Jaderinge: Roman (German Edition)
sich.
»Wärest
du gern bei diesen Leuten geblieben? Sie schienen mir nett.«
»Das
sind sie, aber ich gehöre nicht zu ihnen. Ich fahre mit euch
nach Shanghai«, entgegnete Viktoria ohne Zögern. Jinzis
Gesicht wandte sich ihr zu. Sie sah Staunen in seinem Blick und auch
ein freudiges Leuchten, doch mochte es Einbildung sein.
Wieder
zog endlose Landschaft an ihnen vorbei. Viktoria stellte fest, dass
sie sich langsam an das ständige Holpern gewöhnte, denn
ihre Knochen schmerzten etwas weniger. Einmal wurde am Rand eines
Dorfes Halt gemacht, wo Jinzi ein paar Teigklöße und einen
Kohlkopf besorgte. An einem kleinen Fluss holte Yazi Wasser, um das
Gemüse in einem mitgebrachten Kessel über einem Lagerfeuer
zu kochen. Viktoria gab sich Mühe, bei der Zubereitung des
Essens mitzuhelfen, doch schien es ihren Fingern an Geschick zu
mangeln, denn sie waren weitaus weniger flink als die Yazis. Sie
hatte noch nie in ihrem Leben gekocht und konnte dieser Tätigkeit
kaum Reize abgewinnen. Sehnsüchtig dachte sie an die zahlreichen
Restaurants in Shanghai, wo Gerichte wie von Zauberhand entstanden
waren, um köstliche Gerüche zu verströmen. Vielleicht
war diese Träumerei daran schuld, dass ihr das kleine Messer,
mit dem sie den Kohl putzte, plötzlich entglitt und einen
kleinen Stich in ihre Hand schnitt. Sie fluchte auf Deutsch, während
ihr Blut ausgerechnet auf den Kohlkopf tropfte. Plötzlich sah
sie wieder das steinerne Gesicht ihrer Mutter vor sich, die sie wegen
ähnlicher Unfälle beim Nähen hoffnungslos ungeschickt
genannt hatte. Yazis geduldiges Lächeln schob sich dazwischen.
»Blut
ist nicht giftig, keine Sorge. Wir waschen es ab. Steck dir den
Finger in den Mund, bis es aufhört zu fließen.«
Erstaunlicherweise
schmeckte die schlichte Mahlzeit danach recht gut, was vielleicht an
ihrem bereits heftig knurrenden Magen lag. Die Reise ging weiter bis
zur Abenddämmerung. Dann wurde am Fuß eines Felsens Halt
gemacht. Yazi kochte nochmals Wasser, um einen dünnen Tee
zuzubereiten, mit dem sie die restlichen, trockenen Teigklöße
hinunterspülen konnten.
»Bald
erreichen wir den Huang He, den gelben Fluss«, tröstete
sie Viktoria. »Dort suchen wir uns eine kleine Herberge, wo es
sicher auch warme Mahlzeiten gibt.«
Viktoria
begriff mit Entsetzen, dass nun eine Übernachtung unter freiem
Himmel geplant war. Sie wagte nicht zu fragen, ob das nötige
Geld fehlte, um regelmäßig Zimmer zu mieten, und den
Verkauf eines ihrer Schmuckstücke vorzuschlagen. Jinzi hätte
derartige Großzügigkeit sicher mit einer giftigen
Bemerkung kommentiert. So beobachtete sie schicksalsergeben, wie Yazi
zwei zerschlissene Kamelhaardecken in dem Karren ausbreitete. Zum
Zudecken gab es nur drei gefütterte Jacken. Viktoria erinnerte
sich mit Erleichterung an den warmen Paletot, der in ihrem Koffer
lag.
»Ich
habe einen Wintermantel dabei. Der genügt für Dewei und
mich«, zwang sie sich tapfer zu sagen. »Wenn wir frieren,
habe ich noch meine anderen Kleider, die ich über uns ausbreiten
kann. Ich könnte sogar etwas abgeben.«
Gleichzeitig
rief sie sich das Innere des Karrens ins Gedächtnis, denn im
Mondlicht war es kaum noch zu erkennen. Er war sauber gewesen, das
wusste sie noch. Ihre schönen Kleider würden keinen Schaden
nehmen.
»Meine
Mutter und ich kommen zurecht«, entgegnete Jinzi auch schon.
»Aber wir müssen uns in der Nacht gegenseitig wärmen,
dicht beieinander liegen. Vielleicht sollte Junge an meiner Seite
schlafen und Sie bei meiner Mutter.«
Yazi
warf ihm einen tadelnden Blick zu, den er ignorierte. Viktoria
starrte ihn nur ratlos an. Sie wollte nicht verstehen, was er
vielleicht andeutete.
»Dewei
schläft schon immer an meiner Seite«, entgegnete sie.
»Ich
weiß.« Jinzi atmete ein. »Aber …« Eine
Falte erschien zwischen seinen Brauen und Viktoria meinte zu spüren,
mit welch geistiger Anstrengung er nach den richtigen Worten in einer
fremden Sprache suchte. »Aber jetzt wird langsam erwachsen.
Wird junger Mann. Es ist … nicht gut für ihn.«
Yazi
begann auf Chinesisch zu reden, doch Viktoria fehlte nun jede
Bereitschaft, sich auf das Verständnis zu konzentrieren. Sie sah
zu Dewei hinab, der an ihrem Ärmel zerrte.
»Reg
dich jetzt nicht auf«, flüsterte er ihr zu. »Ich
schlafe bei ihm. Es ist nicht schlimm.«
Jinzi
trat einen Schritt auf sie
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