Das Geheimnis der Jaderinge: Roman (German Edition)
Wölfe?
Bären? Ihre Fantasie erweckte die grauenhaftesten haarigen Wesen
mit scharfen Zähnen zum Leben, deren Augen in der Finsternis
glommen. Verzweifelt schlang sie die Arme um Dewei, der ihr auch tief
schlafend ein wenig Beruhigung schenkte. Die dreckigste Herberge mit
verlausten Laken wäre ihr lieber gewesen als diese Nacht im
Freien. Im Hintergrund hörte sie ein tiefes Schnarchgeräusch,
das von Jinzi stammen musste. Plötzlich war sie sehr froh, ihn
in der Nähe zu wissen, und vermochte wieder entspannter zu
atmen.
Sie
lag lange wach und starrte in die Finsternis. Über ihr funkelten
unzählige goldene Sterne wie Juwelen. Sie wuchsen zu Formen
zusammen, verwandelten sich ganz langsam in Hunde, Karren und Affen,
als gäbe es dort oben in weiter Ferne eine zweite Welt. Ihre
Weite schien so gewaltig, dass Viktoria sich fragte, ob es wirklich
derselbe Nachthimmel sein konnte, den sie auch in Hamburg von ihrem
Fenster aus hatte sehen können. Plötzlich gewann die Nacht
im Freien ungeahnte Schönheit, überwältigte Viktoria
und ließ sie ganz entspannt, fast verzaubert in den Schlaf
fallen. Als ihre Augen sich wieder öffneten, dämmerte es
bereits. Sie sog frische, klare Luft in ihre Lungen und hörte
ihren Magen gierig knurren. Voller Tatendrang richtete sie sich auf.
Vielleicht konnte sie Jinzi heute davon überzeugen, ein
Geldgeschenk anzunehmen, damit er am nächsten Ort eine warme
Mahlzeit besorgte, die etwas nahrhafter war als trockene
Hefeteigklöße.
Dann
sah sie die erste Gestalt näher kommen. Sie war weder haarig
noch hatte sie scharfe Zähne. Nur ein kleiner, glatzköpfiger,
ausgemergelter Mann schlich vorsichtig heran. Viktoria meinte
zunächst, sich in einem dummen Traum zu befinden. Erst als der
Mann sich unter ihrem Blick aufrichtete und ein Messer von seinem
Gürtel zog, begann sie zu schreien.
******
Es
ging so schnell, dass sie sich später kaum an den genauen
Verlauf erinnern konnte. Der Mann kam herbeigerannt, ließ das
Messer dabei wild durch die Luft tanzen, als wolle er gleichzeitig
Schrecken verbreiten und sich selbst Mut machen. Dewei brüllte
auf Chinesisch und stellte sich vor Viktoria. Sie schlang schützend
die Arme um ihn. Der Mann rannte weiter, hielt ihr die Messerspitze
entgegen, doch meinte sie, in seinen Augen panische Angst zu
erkennen.
»Verschwinde!«,
schrie sie auf Deutsch, ohne daran zu denken, dass er sie nicht
verstehen konnte. Sein Lauf verlangsamte sich tatsächlich. Er
ließ das Messer kurz sinken, sah sich ratlos um. Viktoria
wollte schon erleichtert aufatmen, als plötzlich drei weitere
Gestalten aus den Büschen krochen, um den Gefährten mit
gellendem Brüllen voranzutreiben.
Sie
nahm Jinzi zunächst nur als Schatten in ihrem Rücken war.
Dann sah sie sein Bein, das dem ersten Angreifer einen Tritt mitten
ins Gesicht versetzte. Das Messer fiel zu Boden, während der
Mann seine blutige Nase wimmernd hinter einer schützenden Hand
verbarg. Yazi sprang wie ein Panther vom Karren und stellte sich den
anderen Angreifern entgegen. Ihr Körper fegte die Messer
schwungvoll aus den Händen ihrer Besitzer, versetzte Hiebe und
wich der tölpischen Gegenwehr mühelos aus. Mit Jinzi an
ihrer Seite scheuchte sie die Jammergestalten in wenigen Augenblicken
zu den Büschen zurück, wo sie hastig hineinkrochen wie
Mäuse auf der Flucht vor einer Katze.
Viktoria
drückte Dewei erleichtert an sich. Es war ausgestanden. Sie
schenkte Jinzi ein offeneres, glücklicheres Lächeln, als er
jemals von ihr erhalten hatte. Dann musterte sie Yazi anerkennend und
gleichzeitig verwirrt, denn sie hätte sich niemals vorstellen
können, dass eine Frau bewaffnete Männer außer
Gefecht setzen konnte.
»Der
Tag hat sehr stürmisch begonnen«, meinte Yazi, als sie
wieder auf den Karren sprang. »Ich hätte jetzt gern eine
Tasse Tee. Lasst uns zum nächsten Dorf aufbrechen.«
Sie
setzte sich an Viktorias Seite, während Jinzi das Maultier
antrieb. Erst nachdem sie eine Weile durch die Gegend geholpert
waren, bemerkte Viktoria eine klebrige Feuchtigkeit unter ihrer
Handfläche. Verwirrt blickte sie auf das Holz des Karrens. Eine
rote Lache hatte sich dort breitgemacht. Langsam aber beharrlich
floss das Blut aus Yazis Schulter.
3. Kapitel
Auf
Viktorias Drängen wurde sofort Halt gemacht. Während Yazi
beteuerte, dass alles nicht so schlimm sei, riss Jinzi eine der
Daunenjacken in Stücke, um die Schulter seiner
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