Das Geheimnis der Jaderinge: Roman (German Edition)
werden, dann zerbreche dir darüber den Kopf«,
entgegnete Viktoria heftig und bekämpfte den Wunsch, vor Panik
zu schreien. Hilfesuchend wandte sie sich an Dewei, der ihr bisher
das Leben einfacher Menschen in diesem Land erklärt hatte. Was
konnte man ohne Ärzte und Medikamente nur gegen hohes Fieber
ausrichten?
»Vielleicht
sollten wir sie trotzdem zudecken«, schlug er vor. »Und
sie sollte viel trinken.«
Viktoria
lief aus der Höhle und warf einen ratlosen Blick auf die
durchtränkte Landschaft. Überall war es nass, doch wo
besorgte man in der Wildnis Wasser? Zum Glück fiel ihr bald
schon die naheliegendste Lösung ein, denn auf dem Karren lag
eine lederne Wasserflasche für unterwegs. Viktoria brachte sie
zurück in die Höhle, zog den Stöpsel heraus und setzte
die Öffnung an Yazis Lippen, die bereits aufgesprungen waren.
Ein paar Tropfen flossen heraus, dann schubste Yazi die Flasche mit
einer heftigen Handbewegung fort.
»Sie
hat wohl keinen Durst«, kommentierte Viktoria an Dewei gewandt,
der nur die Decken vom Boden aufsammelte.
»Bitte,
wir müssen dich wärmen«, drängte Viktoria, doch
konnte sie auf Yazis Gesicht keinerlei Einsicht erkennen. Die Decken
wurden mit einem lauten Wimmern abgewehrt. Wieder wallte panische
Angst durch jedes Glied von Viktorias Körper. Sie hatte Yazi als
eine sehr vernünftige Frau kennengelernt, die sich klaglos in
notwendige Unannehmlichkeiten fügte. Das Fieber musste ihren
Verstand bereits völlig umnachtet haben, wenn sie sich nun wie
ein trotziges Kind gebärdete.
Ratlos
setzte Viktoria sich an ihre Seite, spürte das Beben und
ruhelose Zucken des glühend heißen Körpers. Während
sie beruhigende Worte flüsterte, gelang es ihr, Yazi vorsichtig
eine Hälfte des Paletots um die Schultern zu legen. Ein
gellender Schrei erklang. Viktoria wurde bewusst, dass sie
versehentlich die Wunde berührt haben musste.
»Es
tut mir leid, ich bin so furchtbar ungeschickt«, murmelte sie,
während ihr Tränen in die Augen schossen. Zu ihrer
Erleichterung rückte Yazi etwas näher an sie heran.
Viktoria zwang sich, ihre Panik zu bekämpfen und ruhig
dazusitzen. Sie summte die Melodie eines Kinderliedes und spürte
Yazis Kopf an ihre Schulter sinken. Die fiebrig glänzenden Augen
schlossen sich, der Atem wurde ruhiger. Viktoria meinte, einmal
gehört zu haben, dass Kranke viel schlafen sollten. Vielleicht
war es ein gutes Zeichen. Vielleicht aber auch nicht.
Wenn
sie eine Ausbildung als Krankenschwester hätte, wie die
schäbige, unscheinbare, zufriedene Marjorie Frazer, dann wäre
sie jetzt nicht ganz so ratlos. Aber sie hatte in ihrem ganzen Leben
nichts Vernünftiges gelernt. Was nützten ihr
Kunstverständnis, ihre Kenntnis mehrerer Sprachen und ihr
Talent, sich hübsch zu machen und charmante Konversation zu
betreiben, hier in der Wildnis? Frauen wie sie gehörten in feine
Salons und auf Konsulatsbälle. In Yazis und Jinzis Welt hatte
sie nichts verloren; sie war tatsächlich nichts weiter als eine
unnötige Last.
Sie
verbarg das Gesicht in den Händen.
»Jinzi
ist bald da. Er weiß sicher Rat«, flüsterte Dewei
ihr tröstend ins Ohr. Sie schlang ihren anderen, noch freien Arm
um ihn. Wenn sie jetzt in Selbstmitleid versank, dann machte sie
alles noch schlimmer.
Viktoria
zwang sich, ruhig zu atmen, und wartete auf Jinzis Rückkehr. Er
kam mit fünf Süßkartoffeln und Bohnen in einem Korb
zurück, den er geschäftig auf den Boden stellte.
»Ihre
Mutter ist schwer krank. Wir müssen sie so schnell wie möglich
zu den Frazers bringen«, fasste Viktoria das Ergebnis ihrer
Überlegungen zusammen. Jinzi versteinerte für einen Moment,
dann sank er vor Yazi in die Knie und überschüttete sie mit
einem Schwall chinesischer Worte. Ihre Augen öffneten sich. Sie
streckte eine Hand aus, um über das Gesicht ihres Sohnes zu
streichen.
»Wir
dürfen keine Zeit verlieren«, drängte Viktoria. »Wir
wickeln uns warm ein und fahren los, egal ob es regnet oder stürmt.«
Jinzi
legte die Arme um seine Mutter und zog sie vorsichtig in die Höhe.
»Ins
nächste Dorf ist der Weg nicht so weit. Es gibt dort sicher
einen Heiler«, meinte er erstaunlich ruhig.
»Aber
sie braucht Medikamente«, widersprach Viktoria. »Die
Frazers behandeln Kranke in ihrer Mission. Sie haben bestimmt etwas
vorrätig.«
Zu
ihrem Staunen begann Jinzi keinen
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