Das Geheimnis der Jaderinge: Roman (German Edition)
ihre Zunge
klebte ausgetrocknet an ihrem Gaumen. Der Schnaps hatte nur sehr
kurzfristige Erleichterung geschenkt. Leise fluchend setzte sie sich
auf. Sie brauchte dringend einen großen Becher Wasser, aber
noch war es stockdunkel und alle Leute an ihrer Seite schliefen fest.
Sie zwang sich aufzustehen, tastete in der Finsternis nach dem
Wasserkrug, den der Wirt ihnen vorsorglich hingestellt hatte.
»Kannst
du auch nicht schlafen?«, hörte sie plötzlich Yazis
Stimme flüstern. Viktoria drehte sich staunend um. Yazi saß
nun aufrecht da und umklammerte ihren Arm mit der anderen Hand.
Selbst im Dunkeln konnte Viktoria etwas Beunruhigendes an ihrer
verkrampften Haltung erkennen.
»Ich
habe Durst. Du auch?«, meinte sie und setzte den endlich
gefundenen Krug gierig an ihre Lippen, um ihn anschließend Yazi
hinzuhalten.
»Nein,
Durst habe ich keinen. Aber etwas stimmt nicht.«
Yazi
ließ ihren Arm los.
»Die
Wunde schmerzt immer mehr statt weniger. Gestern Abend merkte ich es
kaum noch, was sicher an dem Schnaps lag, doch jetzt bin ich davon
aufgewacht.«
Viktoria
fröstelte.
»Du
hättest den Verband wechseln sollen«, mahnte sie und
schalt sich gleichzeitig, nicht selbst daran gedacht zu haben.
»Das
machen wir dann morgen«, sagte Yazi nur und legte sich wieder
auf die Matte. Nach einer Weile drangen haspelnde, aber regelmäßige
Atemzüge an Viktorias Ohr. Es würde schon alles gut werden,
sagte sie sich. Yazi war zäh und hatte viel schlimmere
Verletzungen überlebt.
Sie
wechselten den Verband nach dem Frühstück. Die Blutung
hatte aufgehört, doch um die Wunde war eine Schwellung
entstanden, die glühte und pochte. Als Viktoria beim Verbinden
etwas fester zuzog, verzerrte sich Yazis Gesicht.
»Das
sollte sich ein Arzt ansehen. Die Wunde scheint entzündet«,
murmelte Viktoria, ohne zu wissen, wo sie einen Arzt finden konnten.
Bis zur Mission würde es nun zwei Tage dauern.
»In
Shanghai«, entgegnete Yazi. »Ich will dort so bald wie
möglich hin. Wir müssten in ein paar Tagen den Huang He,
den gelben Fluss erreichen. Dort finden wir hoffentlich ein Schiff,
das uns mitnimmt. Wir hätten vielleicht wirklich deinen Dampfer
nehmen sollen.«
Viktoria
verspürte einen kurzen Moment des Triumphes, als sie sah, wie
Jinzi den Blick niederschlug.
»Vielleicht
gibt es hier jemanden, der ihr wenigstens ein schmerzstillendes
Mittel für die Reise geben kann«, schlug sie vor, um etwas
Mut zu verbreiten. »Sobald wir am gelben Fluss sind, halte ich
nach einem westlichen Schiff Ausschau. Ich werde mit dem Kapitän
reden. Er hat sicher Medikamente an Bord.«
In
dem Gefühl, nun doch mehr als ein lästiges Anhängsel
zu sein, richtete sie sich auf.
Jinzi
bedankte sich mit unüblicher Höflichkeit. Von einem
Dorfheiler erhielten sie einen bräunlichen Trank, der Yazi
tatsächlich Erleichterung verschaffte. Die Reise ging weiter.
******
Um
die Mittagszeit zog heftiger Wind auf, dem Regenschauer folgten.
Jinzi brachte den Karren wieder an einem Felsen zum Stehen. Sie
verkrochen sich in einer Höhle, bis der Regen etwas nachgelassen
hatte. Dann lief Jinzi erneut los, um Essen zu besorgen. Die
Temperatur war schlagartig gesunken, und Kälte fraß sich
in alle Knochen. Viktoria zog Dewei eine der gefütterten Jacken
über, hüllte sich selbst in ihren Paletot und nahm
schließlich die noch verbliebenen Kleidungsstücke, um Yazi
darin einzuwickeln, die bewegungslos auf dem Boden kauerte, obwohl
ihre Zähne bereits klapperten. Doch alle Jacken und Decken
wurden heftig abgewehrt.
»Hăo
téng«, flüsterte Yazi heiser. »Yánrè.«
»Sie
hat Schmerzen und ihr ist heiß«, übersetzte Dewei
hilfsbereit. Viktoria fragte sich, wie man in dieser Kälte
schwitzen konnte. Sie legte eine Hand auf Yazis Stirn und zuckte
erschrocken vor deren Glühen zurück. Ihr Herzschlag wurde
zu einem Trommelwirbel.
»Du
hast Fieber.«
Yazi
neigte den Kopf zur Seite. Ihre Augen waren von einer glasigen
Schicht überzogen. Viktoria fühlte sich an die
Veränderungen erinnert, die sie an Margaret Huntingdons Gesicht
manchmal wahrgenommen hatte, den plötzlichen Wandel von wacher
Intelligenz zu Verwirrtheit.
»Ich
werde wirklich eine alte, wehleidige Frau. Was soll Andrew noch von
mir wollen?«, flüsterte Yazi heiser.
»Du
musst erst gesund
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