Das Geheimnis der Jaderinge: Roman (German Edition)
»Zu
viel Yang heißt, ihr Körper ist nicht im Gleichgewicht. Zu
viele männliche Elemente wie Feuer«, erklärte Dewei
hilfsbereit. Viktoria fand die Diagnose nicht besonders
aufschlussreich, doch half die vom Arzt hinterlassene Medizin aus
Pilzen, die in einer Flüssigkeit schwammen, tatsächlich,
Yazis Schmerz zu lindern und sie weiter bei Bewusstsein zu halten.
Sie
verbrachten den Rest des Tages in der Herberge. Yazis Zustand wurde
nicht schlimmer, doch hatte sie weiterhin keinen Appetit und ihre
Stirn blieb glühend heiß. Viktoria zwang sich weiterhin
zur Ruhe. Sie drängte Yazi, wenigstens genug zu trinken, flößte
ihr so oft wie möglich eine heiße Brühe ein und
wandte sich taktvoll ab, wenn Jinzi seine Mutter zum Nachttopf
führte. Die Panik hatte nachgelassen, da die Mittel des kleinen
Chinesen zu helfen schienen. Allmählich begann Viktoria wieder
Licht am Horizont zu sehen, und die Ungeduld, baldmöglichst nach
Shanghai zu gelangen, wurde dringlich. Am nächsten Morgen gelang
es ihr ohne große Mühe, Jinzi allein zu den Frazers zu
schicken. Er sollte Marjorie holen, die seine Mutter mit ein paar
Medikamenten sicher wieder ganz auf die Beine stellen würde,
damit sie bald schon erneut aufbrechen konnten.
Mutter
und Sohn nahmen ohne viele Worte Abschied, denn Jinzi wollte auf dem
Maultier reiten und rechnete damit, dass er die Mission vor Einbruch
der Dämmerung erreichen könnte. Dort ließe sich
sicher auch ein Pferd für Marjorie auftreiben, sodass er schon
am nächsten Tag zurückkehren würde. Nach seiner
Abreise schlief Yazi ruhig ein. Viktoria tauchte gemeinsam mit Dewei
erneut in die Welt von Oliver Twist ein, um sich die Zeit des Wartens
zu vertreiben. Es erleichterte sie, dass sie wieder empfänglich
für die Leiden eines armen, englischen Waisenjungen geworden
war, denn gestern noch hatten die eigenen Sorgen sie zu sehr
niedergedrückt. Oliver hatte gerade den brutalen Sikes und seine
freundliche Geliebte Nancy kennengelernt, als ein spitzer Schrei
Viktoria zurück in die chinesische Wirklichkeit riss.
Yazi
war in die Höhe geschossen. Wieder umklammerten ihre Finger den
verletzten Arm unterhalb der Wunde, als wolle sie durch diesen Druck
qualvolle Schmerzen aus ihrem Körper pressen.
»Geht
es dir nicht gut? Ich hole den Arzt«, rief Viktoria. Yazi fiel
wortlos auf die Matte. Ihr Atem rasselte und das Fieber schüttelte
sie heftiger als jemals zuvor. Viktoria hörte die Panik als
Rauschen in ihren Ohren, während sie Yazis Hand ergriff und
erfolglos nach beruhigenden Worten suchte. Am liebsten hätte sie
in allen Sprachen, derer sie mächtig war, laut um Hilfe
geschrien. Die Frau des Wirtes, ein kleines, stilles Wesen, kam mit
einer weiteren Schüssel Suppe hereingeschlichen. Nach einem
Blick auf Yazi erklärte sie sich bereit, selbst den Arzt zu
holen. Viktoria blieb mit hämmerndem Herzen zurück. Yazis
Schüttelfrost wurde indessen heftiger. Kein einziges Glied ihres
Körpers schien davon verschont, und Schweiß floss in
kleinen Bächen über ihr eingefallenes Gesicht. Viktoria
murmelte leise ein Gebet. Wenn niemand mehr helfen konnte, dann blieb
nur noch ein Gott, an den sie nie wirklich geglaubt hatte. Der Druck
von Yazis Fingern wurde so stark, dass es schmerzte.
»Mein
Sohn«, stieß sie heiser, aber völlig klar hervor.«
Er braucht eine gute Frau. Shen Akeu … sie ist klug …
aber … aber nicht richtig für ihn.«
»Er
wird sicher eine andere Frau finden«, beruhigte Viktoria in der
Hoffnung, dass es Yazi nun besser ging, denn immerhin wusste sie, in
welcher Sprache sie mit einer Lao Wai reden sollte.
»Wer
hätte gedacht …« Yazi begann zu lachen und wurde
von einem Hustenanfall geschüttelt. »Wer hätte
gedacht, dass ein Stümper mit einem rostigen Messerchen die
große Kriegerin umbringt. Aber ich glaube, Andrew ist auch
schon tot. Sonst wäre er zurückgekommen. Vielleicht …
vielleicht besser so … Vielleicht gibt es wirklich ein neues
Leben für uns alle nach dem Tod.«
»Wir
erfahren in Shanghai, was aus ihm wurde. Sicher lebt er noch in
dieser Welt«, widersprach Viktoria hartnäckig. Sie
verspürte ein plötzliches Erschlaffen der Finger, die ihre
Hand eben noch fast zerdrückt hatten. Der Schüttelfrost
erstarb, als hätte die Kranke endlich Ruhe gefunden.
Hoffnungsvoll streichelte Viktoria Yazis Gesicht. Es war nass vor
Schweiß, reagierte nicht auf ihre Berührung, aber die
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