Das Geheimnis der Jaderinge: Roman (German Edition)
Haut
kühlte langsam ab.
»Fühlst
du dich besser?«, fragte Viktoria, um eine klamme Angst zu
bekämpfen, die Schlingen um ihren Hals gelegt hatte und ihr die
Luft zum Atmen nahm. Als keine Antwort kam, versetzte sie Yazi ein
paar Ohrfeigen. Der Kopf gab den Schlägen widerstandslos nach,
zuckte hin und her wie eine Puppe.
»Antworte
mir! Wach auf!«, kreischte Viktoria. Ihr war unerträglich
kalt. Sie wollte schreien bis zur Besinnungslosigkeit, so wie damals,
als sie die Tür zu dem Zimmer ihres Vaters geöffnet hatte.
Es war nicht möglich, sie träumte, es war ein sehr
gemeiner, böser Traum, den sie nicht verdient hatte.
»Antworte
endlich!«
Sie
hatte die Hand zu einem heftigen Schlag gehoben, als sie den Druck
von Deweis Fingern auf ihrem Handgelenk verspürte.
»Etwas
stimmt nicht«, deutete er vorsichtig an und schob Viktoria zur
Seite. Dann legte er sein Ohr auf die Brust der Kranken. Eine Weile
verharrte er in dieser Position, um sich dann langsam aufzurichten.
»Vi
Ki«, flüsterte er. »Sie ist tot.«
******
Der
Wirt bot sich an, für die Vorbereitungen der Beisetzung zu
sorgen, denn er konnte einen Leichnam in seiner Herberge nicht
gebrauchen. Dewei half offiziell als Dolmetscher und war bis zu
Jinzis Rückkehr der einzig ansprechbare Hinterbliebene. Viktoria
kauerte in einer Ecke des Zimmers. Sie lauschte dem wilden Prasseln
des Regens, das auf einmal beruhigend schien. Der Sturm draußen
tobte, als wolle er diese grausame Welt endgültig vernichten.
Vielleicht würde er die Wände zum Einsturz bringen und alle
Bewohner der Herberge unter sich begraben. Erbarmungslos schlich sich
der Wind durch alle Ritzen der Holzwände, biss tief in die
Knochen und tat weh. Viktoria rollte sich unter der Decke zusammen.
Für eine Weile ließ das Zittern nach.
»Vi
Ki, jetzt iss doch endlich«, mahnte Dewei und hielt ihr eine
Schüssel Suppe entgegen. Viktoria wollte ablehnen, doch dann sah
sie die hilflose Angst in seinen Augen. Er wusste, was es hieß,
ein verlassenes Kind zu sein. Erstaunlicherweise hatte Yazis Tod in
ihr dasselbe Gefühl ausgelöst, obwohl sie diese Frau nur
ein paar Wochen gekannt hatte. Yazi hatte ihr in dieser fremden Welt
ein Gefühl von Geborgenheit geschenkt, und eben das suchte Dewei
bei seiner exotischen Adoptivmutter.
Sie
nahm die Schüssel an und zwang sich, ein paar Löffel davon
herunterzuwürgen. Die Wärme tat erstaunlich wohl, machte es
leichter, das Beißen des Windes zu ertragen.
»Wie
soll sie beigesetzt werden?«, fragte Viktoria. Einen Schritt
nach dem anderen, nur so konnte man sich durch ein Dickicht von
scharfen Dornen kämpfen.
»Sie
hat hier keine Familie«, meinte Dewei ausweichend. »Der
Wirt hat einen Sarg besorgt und sie bereits hineinlegen lassen. Sie
kann auf dem nächsten Friedhof begraben werden. Der Wirt wäre
bereit, einen buddhistischen Mönch aufzutreiben, der ein paar
Gebetssprüche aufsagt, aber … aber jemand müsste das
alles bezahlen.«
Viktoria
rieb sich die Schläfen. Selbst nach dem Tod eines Menschen
drehte sich alles nur ums Geld.
»Als
Taiping-Soldatin war Yazi Christin«, stellte sie schließlich
fest. »Sie hat Andrew nach christlichem Ritus geheiratet und
vielleicht würde sie auch so begraben werden wollen.«
Wahrscheinlich
wäre Yazi die Art der Zeremonie gleichgültig gewesen, aber
Viktoria wollte sich von Yazi auf eine vertraute Art verabschieden
können. Dann kam ihr plötzlich ein Gedanke, der einen
winzigen Funken von Lebensmut aufkeimen ließ.
»Wir
warten, bis Marjorie Frazer hier ist. Dann bringen wir Yazi in die
Mission. Dort gibt es sicher einen Friedhof.«
Erleichtert
lehnte sie sich an die Wand. Marjorie wäre eine Hilfe. Sie besaß
eben jene unerschütterliche Bereitschaft, sich den Widrigkeiten
des Lebens zu stellen, die Viktoria in Notlagen immer wieder verlor.
Doch Marjorie würde nicht allein kommen.
Viktoria
merkte, dass sie Angst vor dem bevorstehenden Wiedersehen mit Jinzi
hatte. Sie wusste, wie man sich fühlte, wenn man jenen Menschen,
der einem ein Leben lang Liebe und Schutz geschenkt hatte, verlor.
Aber sie vermochte sich nicht vorzustellen, wie ein so unbeherrschter
Mann wie Jinzi mit dieser Lage fertig werden würde.
******
Jinzi
schwieg. Sein Gesicht blieb starr, stolz und unzugänglich. Er
erbat sich etwas Zeit allein mit dem
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