Das Geheimnis der Jaderinge: Roman (German Edition)
Leichnam seiner Mutter, dann
willigte er wortlos ein, sie in die Mission bringen zu lassen.
Marjorie Frazer handelte mit dem Wirt einen annehmbaren Preis für
den Sarg aus, in dem sie Yazis Leichnam transportierten. Sie schien
bedrückt, aber nicht wirklich erschüttert. In ihrem Leben
als Krankenschwester hatte sie schon viele Menschen sterben sehen.
Entsprechend ihren Anweisungen wurde gewartet, bis Regen und Wind
sich ein wenig gelegt hatten, dann ging es zurück zur Mission.
Während der Reise versuchte sie, Viktoria durch belanglose
Gespräche aufzuheitern. Mit Jinzi zu reden, vermied sie, als sei
ihr bewusst, dass manche Trauernde lieber in Frieden gelassen werden
wollten.
»Wenn
wir sie trotz des Sturmes in die Mission gebracht hätten, hätten
Sie ihr helfen können?«, sprach Viktoria eine Frage aus,
die wie ein Stachel in ihrem Bewusstsein saß. Marjorie drückte
tröstend ihre Hand.
»Vielleicht
ja, vielleicht nein. Sehr wahrscheinlich hätte sie die Reise bei
einem solchen Wetter gar nicht überlebt.«
»Aber
vielleicht …«, suchte Viktoria weiter nach Schuld und
wurde von einer Handbewegung unterbrochen.
»Sie
haben getan, was Sie für richtig hielten«, erklärte
Marjorie. »Diese Grübeleien ändern nichts an dem, was
geschehen ist. Manchmal hilft es sehr, an Gottes Willen zu glauben.«
Viktoria
sah sich nach Jinzi um, der wieder den Karren lenkte. Aus tiefstem
Herzen wünschte sie ihm die Gabe eines solchen Glaubens, ahnte
aber, dass er ihn ebenso wenig besaß wie sie selbst.
******
Die
Beerdigung war kurz und schlicht, doch wurde der Verstorbenen Achtung
erwiesen. Viktoria dachte, dass dies eben in Yazis Sinn gewesen wäre,
und fühlte sich ein wenig besser. Der Ehering aus Jade steckte
noch an dem Finger der Toten. Viktoria legte auch den zweiten Ring
und das zusammengefügte Liebesgedicht mit in den Sarg. Die
anwesenden Chinesen zündeten Räucherstäbchen an,
stellten Obst und eine Reisschüssel an dem Grab ab, damit die
Verstorbene nicht hungern musste. Dies entsprach nicht unbedingt dem
christlichen Ritus, doch störten die Frazers sich nicht daran.
Sie boten Viktoria an, eine Weile in der Mission zu bleiben. Gerade
wollte sie dankbar annehmen, als Jinzi, der stocksteif am Grab seiner
Mutter gestanden hatte, plötzlich herumfuhr.
»Sie
wollte nach Shanghai und herausfinden, was aus ihrem Lao Wai wurde«,
sprach er den ersten längeren Satz seit Tagen. »Ich muss
für sie Wahrheit erfahren und will nicht warten.«
Viktoria
schluckte ihren Widerspruch herunter. Ihr war so elend, als hätte
jemand all ihre Knochen gebrochen, doch tief in ihrem Inneren wusste
sie, dass Jinzi die Wahrheit sprach. Yazis Herzenswunsch sollte
erfüllt werden.
******
Das
Wetter war mit einem Mal milder geworden. Viktoria legte die mit
Hasenfell gefütterte Lederjacke, Marjories Abschiedsgeschenk,
hinter ihren Rücken, um das Holpern des Karrens besser zu
ertragen. Wieder fuhren sie durch die chinesische Landschaft, doch
nun wirkte sie unerträglich trist. Niemand redete. Dewei hatte
sich an Viktorias Seite gekuschelt und schlief, da er endlich einmal
nichts mehr übersetzen und erklären musste. Sie drückte
ihn dankbar an sich. Das Schweigen wurde allmählich bedrückend,
doch wusste sie nicht, wie sie mit Jinzi in dieser Lage eine
Unterhaltung beginnen sollte, die nicht in einem heftigen Streit
endete. Bisher hatte Yazi immer vermittelt und geschlichtet, doch nun
klaffte ein tiefer Graben zwischen ihnen.
Um
die Mittagszeit wurde Halt gemacht, da Viktoria über Hunger
klagte. Sie verzehrte mit Dewei ein paar belegte Brote, die Marjorie
fürsorglich eingepackt hatte, und wies auf den Umstand hin, dass
die Frazers aus chinesischen Teigklößen, gekochten Eiern
und etwas Gemüse richtig englische Sandwiches zaubern konnten.
Dewei entlockte sie dadurch ein kleines Lächeln. Jinzi aß
nichts und schien ihr nicht zuzuhören. Sobald sie das Essen mit
ein paar Schlucken aus der Wasserflasche heruntergespült hatten,
drängte er zum Aufbruch.
Es
ging weiter, bis die Dämmerung einsetzte und ein kalter Wind zu
blasen begann. Viktoria sah sich hoffnungsvoll nach Häusern um,
warf sehnsüchtige Blicke auf größere Straßen,
die zu einer Ortschaft führen konnten. Sie wollte nicht nochmals
im Freien übernachten, wo alle Büsche unerfreuliche
Überraschungen beherbergen konnten, doch Jinzi schien eben das
zu planen.
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