Das Geheimnis der Jaderinge: Roman (German Edition)
Er drängte das völlig erschöpfte Maultier
immer weiter, an Pagoden und Lehmhütten vorbei, bis es völlig
dunkel geworden war.
»Wir
brauchen eine Pause«, protestierte Viktoria schließlich.
»Ohne Schlaf und Nahrung im Magen schaffen wir es nicht bis
Shanghai.«
Jinzis
Rücken bewegte sich nicht, aber er brachte das Maultier unter
einem Baum zum Stillstand, dessen lange, knorrige Äste sich wie
schützende Arme über ihnen ausbreiteten.
»Ich
hole Essen«, kam er Viktorias Klagen zuvor. Sie begann seufzend
in ihrer Schmuckschatulle zu kramen, aber er winkte ab.
»Besser
behalten Ketten und Ringe. Nur locken Räuber an.«
Dann
lief er los. Eine endlose Weile später kam er mit Süßkartoffeln
und einem kleinen Sack voll Bohnen zurück, die er Viktoria
schweigend überreichte. Sie räusperte sich, wollte darauf
hinweisen, dass sie keine Ahnung hatte, wie Menschen rohe Früchte
der Erde in Speisen verwandelten, doch sah sie Jinzis Rücken
bereits hinter dem Baumstamm verschwinden.
»Wir
brauchen ein Feuer«, löste Dewei das Problem. Ohne ihre
Zustimmung abzuwarten, begann er Holz zu sammeln und holte für
einen Moment Jinzi zurück, der durch das Reiben zweier Steine
das Lagerfeuer zum Brennen brachte. Als er sogleich wieder
verschwunden war, half Viktoria dem Jungen, das restliche Wasser in
Yazis Tontopf zu schütten, um so Kartoffeln und Gemüse über
den Flammen zu erwärmen. Das Ergebnis dieses abenteuerlichen
Kochunterrichts war zumindest genießbar. Sie zerschnitten die
Kartoffeln und teilten sich den einzigen Holzlöffel, den sie in
Yazis Vorrat fanden, bis ihr Hunger gestillt war. Der Topf war noch
nicht leer.
»Jinzi
hat seit Tagen kaum gegessen«, warf Dewei zögernd ein.
»Dann
bring ihm den Rest«, erklärte Viktoria. Das
erwartungsvolle Starren seiner Augen im Mondlicht verwirrte sie
etwas. Warum gehorchte er nicht einfach?
»Ich
glaube, das solltest du tun«, erklärte der Junge. »Ihr
könnt euch nicht dauernd nur anschweigen.«
Viktoria
wurde unwohl, aber sie sah ein, dass er Recht hatte. Sie musste einen
Weg finden, mit Jinzi auszukommen, bis sie Shanghai erreichten.
Außerdem würde er unterwegs zusammenbrechen, wenn er
weiter jede Nahrung verweigerte.
Sie
nahm den inzwischen etwas abgekühlten Topf mit zermanschten
Kartoffeln und Bohnen, um sich auf die Suche zu machen. Sobald sie
den Baum umrundet hatte, erkannte sie den ihr mittlerweile sehr
vertrauten, grazilen und doch muskulösen Rücken. Jinzi
hockte auf einem Felsen. Das Tuch verbarg seine Haarpracht nicht
mehr, die schwarze Flut glänzte im Licht des Mondes und er hatte
das Gesicht in den Handflächen vergraben. Viktoria erstarrte für
einen Moment, denn sie hatte in ihrem Leben bereits gelernt, dass
Männer ihre Tränen am liebsten unbeobachtet vergossen. Aber
sie hörte kein Geräusch außer den Lauten der
nächtlichen Landschaft. Zögernd tat sie ein paar Schritte
und ließ Zweige unter ihren Füßen knacken. Jinzi
regte sich nicht. In seiner starren Gestalt lag so viel Schmerz, dass
Viktoria die Sehnsucht nach Yazi wie einen Messerstich in der Brust
verspürte. Entschlossen, gegen die lähmende Schwermut
anzukämpfen, ging sie weiter.
»Um
ehrlich zu sein, habe ich noch niemals zuvor etwas gekocht«,
plauderte sie so fröhlich wie möglich, als sie den Topf zu
Jinzis Füßen abstellte. »Dewei und ich haben diese
Pampe zusammen geschaffen und verzehrt. Zwar sieht es aus wie Nahrung
für Schweine, aber es füllte unsere Mägen und wir
leben noch.«
Jinzis
Kopf bewegte sich kurz in Richtung des Topfes, aber er rührte
ihn nicht an. Viktoria nahm neben ihm auf dem Felsen Platz.
»Wie
ich schon sagte, das Essen schmeckt wirklich nicht sehr gut, doch mit
einem vollen Magen schläft man wesentlich besser«, fuhr
sie aufmunternd fort. Jinzi würdigte sie eines kurzen Blickes.
»Besser
nicht schlafen. Jemand muss Wache halten, sonst wieder Überfall.«
Viktoria
unterdrückte einen Seufzer. Wenn Jinzi bereit wäre, mehr
Geschenke aus ihrem Schmuckvorrat anzunehmen, könnten sie sich
sicher regelmäßig Herbergen leisten, was sicherer und
zudem viel bequemer wäre.
»Ein
halb verhungerter, unausgeschlafener Mann ist kein besonders guter
Schutz gegen Räuberbanden«, merkte sie spöttisch an
und sah Jinzis Körper zusammenzucken. Sie hatte es wieder einmal
geschafft. Jetzt
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