Das Geheimnis der Jaderinge: Roman (German Edition)
er beruhigte sie nicht. Lauter als
notwendig ließ sie ihre Tasse auf dem Unterteller landen.
»Anton
ist mein Verlobter! Was habe ich denn in Ihren Augen so Dummes
getan?«
Die
Mundwinkel von Amalia Virchow sanken abwärts. Sie warf der
Tochter einen abfälligen Blick zu.
Ȇber
deine Ausflüge zum Alsterufer wird bereits geredet. Eine junge
Dame muss auf ihren Ruf achten. Den hast du selbst mit Füßen
getreten.«
Viktoria
fuhr auf. Plötzlich fiel es ihr nicht mehr schwer, sich auf den
Beinen zu halten. Der Zorn hatte die Welt wieder gefestigt.
»Ganz
Hamburg weiß seit meiner Geburtstagsfeier, dass ich Anton
heiraten werde! Was kümmert es die Leute, wenn ich … wenn
ich mit ihm ausreite?«
Ein
Seufzer erklang. Ihre Mutter begann in einem Stapel von Papieren zu
wühlen, der neben ihr auf dem Tisch lag. Sie zog einen weißen
Umschlag heraus.
»Anton
von Scharpenberg hat natürlich von dem Unglück gehört.
Er ließ dir eine Nachricht zukommen«, meinte sie tonlos,
während sie das Schreiben an ihre Tochter weiterreichte.
Viktoria spürte ihren Herzschlag wie ein Trommeln in der Brust.
Wieder begannen die Wände des Zimmers einen Reigen zu tanzen,
doch sie achtete nicht darauf. Der Umschlag war nicht aufgerissen
worden, also konnte ihre Mutter den Inhalt nicht kennen. Warum sah
sie so niedergeschlagen aus?
Mit
zitternden Händen riss sie den Brief auf. War Anton selbst hier
gewesen und nicht zu ihr vorgelassen worden? Sie beschloss, ihrer
Mutter niemals zu vergeben, falls sie dem einzigen Menschen, der ihr
hätte Trost spenden können, den Eintritt verwehrt hatte.
Ihre
Augen jagten über schwungvolle Schriftzüge. Wie kurz dieser
Brief doch war! Vermutlich schlug Anton ein baldiges Treffen vor, um
die neue Lage zu besprechen. Gierig sog sie den Inhalt des Schreibens
in sich auf.
> Es
tut mir schrecklich leid, Vicki. Anton<
Sie
fiel wieder auf den Stuhl, suchte ratlos nach der verborgenen
Bedeutung dieser einzigen Zeile. Sie fand keinen Hinweis auf ein
baldiges Wiedersehen. Vielleicht wollte Anton warten, bis sie sich
besser fühlte, verzichtete rücksichtsvoll auf jedes
Drängen.
»Es
ist alles in bester Ordnung. Ich werde heute zu dem Haus der von
Scharpenberg fahren und mit meinem Verlobten sprechen«, sagte
sie laut. Ihre Mutter seufzte nochmals.
»Hat
er denn um einen Besuch gebeten? Diesen Brief hat sein Diener
gebracht. Anton von Scharpenberg ließ sich nicht blicken.«
»Er
weiß eben, dass Sie ihn nicht leiden mögen«,
erwiderte Viktoria bissig. »Deshalb will er, dass ich zu ihm
komme. Das hat er mir geschrieben.«
Die
Lüge war ihr leicht von den Lippen geglitten. Sie ließ den
Brief unter den Tisch sinken und zerknüllte ihn rasch.
Der
Rest des gemeinsamen Frühstücks verlief bei eisigem
Schweigen. Viktoria zwang sich, zwei weitere trockene Brötchen
zu schlucken, denn in völlig geschwächtem Zustand wollte
sie Anton nicht begegnen. Sie spülte das Essen mit vielen Tassen
Kaffee in ihren Magen. Das Haus war so leer ohne ihren Vater, als
hätte es durch seinen Tod die Seele verloren. Sie wollte nur
noch weg. Möglichst bald musste sie Viktoria von Scharpenberg
werden.
******
Magda
half ihr, ein dezentes Trauerkleid anzuziehen, und zwängte das
strohige, ausgetrocknete Haar in einen Knoten. Viktoria musterte
erschrocken ihr eigenes Spiegelbild. Ihre Augen waren verquollen von
all den Tränen, die geflossen waren wie Wein aus einem lecken
Fass. Sie ließ sich ein Becken mit eiskaltem Wasser bringen,
doch vermochte selbst der Schock plötzlicher Kälte nicht
wirkliche Frische in ihr Gesicht zu zaubern. Verzweifelt kniff sie
sich in die Wangen. Warum nur verbot ihre Mutter Rouge? In diesem
Punkt war ihr Vater sogar mit seiner Gattin einer Meinung gewesen.
Erschrocken spürte sie neue Tränen in ihrer Kehle und zwang
sich, ruhig zu atmen. Während der Reise zum Haus der von
Scharpenbergs musste sie versuchen, nicht an ihren Vater zu denken,
denn eine innere Stimme flüsterte ihr zu, dass Anton von einem
verheulten Häufchen Elend nicht angetan wäre. Sie ballte
die Hände zu Fäusten, bis die Enge in ihrer Brust
allmählich nachließ. Mit den Granatohrringen und dem
dazugehörigen Collier sah sie wenigstens nicht aus wie eine
Bittstellerin. Den Drachenreif streifte ihr Blick nur kurz, dann
wendete sie sich ab. Die Erinnerung tat zu
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