Das Geheimnis der Jaderinge: Roman (German Edition)
indem sie
selbst verzagte. Wenn das neue Leben begann, musste sie sich ihm
stellen, doch nun galt es, erst einmal Trost zu spenden.
Ihr
Vater ließ seinen Kopf lange auf ihrer Schulter ruhen, während
sie sanft sein Haar streichelte. Dann drückte er kurz und innig
ihre Hand.
»Es
ist spät. Geh jetzt schlafen, Kind. Du musst dich ausruhen«,
flüsterte er. Viktoria stand zögernd auf. Tatsächlich
war es draußen dunkel geworden. Die Stunden waren an ihr
vorbeigerauscht. Sie hatten nicht zu Abend gegessen, aber Viktoria
verspürte auch keinen Hunger, nur den Wunsch, eine Weile in Ruhe
grübeln zu können.
»Wir
sehen uns morgen. Lass den Kopf nicht hängen«, meinte sie
zu ihrem Vater, als sie aufstand. Wieder presste er ihre Hand so
heftig zusammen, dass es fast schmerzte.
»Es
tut mir leid, Vicki. So schrecklich leid«, rief er ihr nach.
Bevor die Tür zufiel, wandte sie sich nochmals um. Mit seinen
großen, unglücklichen Augen erinnerte ihr Vater sie an ein
zur Schlachtbank geführtes Lamm.
»Soll
ein Diener dir noch etwas bringen? Du solltest vielleicht etwas
essen, Papa«, meinte sie besorgt. Er hob kurz die Hände.
»Noch
etwas Sherry. Oder besser eine Flasche Rotwein, der französische
Burgunder, weißt du noch? Er schmeckt köstlich.«
Viktoria
nickte. Die Aussicht auf dieses Getränk hatte wieder etwas Leben
in das niedergeschlagene Gesicht ihres Vaters gebracht. Erleichtert
klingelte sie nach dem Kammerdiener und bestellte die Flasche.
Morgen, wenn ein neuer Tag begann, würde ihr Vater sicher aus
seiner Verzweiflung erwachen und neuen Mut schöpfen.
Sie
betrat ihr eigenes Zimmer und ließ sich auf einen Sessel
fallen. Mechanisch schnürte sie ihre Reitstiefel auf. Es tat
wohl, die Zehen frei bewegen zu können. Viktoria überlegte,
nach Magda zu klingeln. Sie hätte jetzt gern noch ein Glas
Sherry getrunken und außerdem war es nicht einfach, sich selbst
aus dem Korsett zu befreien. Doch während sie die Hand nach der
Klingel ausstreckte, wurde ihr klar, dass Magda ihr jede
Gefühlsregung vom Gesicht ablesen konnte. Sie war nicht in
Stimmung für Erklärungen.
>Wir
sind ruiniert’, hallte es in ihrem Kopf. Viktoria lehnte sich
zurück und presste die Hände an ihre Schläfen. Ihre
Gedanken wurden zu Dominosteinen, die sich nacheinander zum Einsturz
brachten. Kein teures Essen mehr. Wovon ernährten sich arme
Leute eigentlich? Sie sahen nicht alle verhungert aus, versuchte sie
sich zu beruhigen. Keine modischen Kleider mit Tournüren oder
sonstigen Extravaganzen, die in Zukunft das Leben vornehmer Damen
beherrschen mochten. Wenigstens würde sie nicht mehr die Ohren
vor neidischem, bösem Geflüster verschließen müssen,
während sie öffentlich zur Schau gestellt wurde. Dennoch
ballten ihre Hände sich zu Fäusten, denn trotz aller
vernünftigen Überlegungen, mit denen sie sich zu beruhigen
versuchte, meinte sie in einen Abgrund zu stürzen, ohne zu
wissen, wann und wo sie aufprallen würde. Krampfhaft drückte
sie ihren Kopf weiter zusammen, um die Panik aus ihm herauszupressen.
Es musste irgendwie weitergehen. Sie würden die Villa verkaufen
und in ein bescheideneres Heim ziehen. Dann waren da noch all die
Juwelen. Sie liebte ihre böhmischen Granaten, das Erbstück
ihrer Großmutter, und natürlich den Drachenreif. Daran
würde sie sich eisern klammern, ganz gleich, was geschah. Die
Vorstellung, alle anderen Schmuckstücke zu verkaufen, tat zwar
weh, war aber nicht unerträglich. Nur bei der Ahnung, dass ihr
Vater sich von seiner Kunstsammlung würde trennen müssen,
stach ein heftiger Schmerz in ihre Brust. Es ergab alles keinen Sinn,
schien so unglaubwürdig wie ein schlechter Traum. Morgen musste
sie mit Anton reden und ihm sagen, dass …
Plötzlich
begann Viktoria zu frieren, obwohl es durchaus warm im Zimmer war.
Die von Scharpenbergs hatten eine reiche Erbin als Gemahlin ihres
Sohnes erwartet, nicht die Tochter eines ruinierten
Reedereibesitzers. Die Zukunft, welche sie sich ausgemalt hatte,
zerfiel soeben in Tausende von Scherben. Sie krallte ihre Finger in
die Lehnen des Sessels, um nicht laut zu schreien, dann zwang sie
sich, dem Sturm in ihrem Kopf Einhalt zu gebieten. Anton und sie
waren ein Paar, das hatte er ihr versichert und heute am Alsterufer
erneut bewiesen. Diesmal war es nicht mehr so unangenehm gewesen,
auch wenn sie ihn um den Genuss beneidete, den Männer bei
Weitere Kostenlose Bücher