Das Geheimnis der Jaderinge: Roman (German Edition)
weh.
Viktoria
fühlte sich recht sicher auf den Beinen, als sie mit Magda die
Kutsche bestieg. Während sie losfuhren, wurde ihr bewusst, dass
sie auch sämtliche Pferde vielleicht würden verkaufen
müssen. Es gab Droschken, sagte sie sich. Doch was würde
aus Charlie, ihrem geliebten Rappen werden, auf dem sie stets
ausgeritten war?
»Erwartet
der Herr von Scharpenberg Sie?«, riss Magda sie aus der
melancholischen Grübelei. Ihr besorgter Tonfall irritierte
Viktoria.
»Natürlich!
Er ist mein Verlobter«, erwiderte sie barscher als notwenig und
brachte die Zofe dadurch für den Rest der Fahrt zum Schweigen.
Das
Landgut der von Scharpenbergs lag etwas außerhalb Hamburgs am
Elbufer. Umgeben von malerischen Wiesen und Hainen erinnerte es an
ein königliches Lustschloss, dessen prächtige Fassade
Viktoria auf einmal einschüchterte. Verärgert stellte sie
fest, dass ihre Hände zu zittern begannen und ihr Herz wieder
unruhig raste. Am liebsten wäre sie auf der Stelle umgekehrt,
doch wie wollte sie diesen plötzlichen Sinneswandel ihrer Mutter
erklären? Viktoria warf die Schultern zurück. Sie war immer
noch die Frau, die Anton liebte.
Der
livrierte Kammerdiener sah bei ihrem Anblick verlegen aus. Er
räusperte sich, erklärte dann, der junge Herr sei im
Augenblick leider abwesend, aber er werde der gnädigen Frau
Bescheid geben. Viktoria fühlte neue Schwäche in den
Beinen, als stünde sie auf zwei dünnen Zweigen, die ihr
Gewicht kaum tragen konnten. Dann zwang sie sich zu nicken.
Die
Baronin von Scharpenberg ließ Viktoria auffallend lange warten.
Vermutlich musste sie sich noch angemessen herrichten, denn vornehme
Herrschaften schliefen bis zum Vormittag, wie Anton manchmal
scherzhaft angemerkt hatte. Als sie schließlich in einem
gerüschten Hauskleid erschien, war ihr Gesicht zu einem sehr
verkrampften Lächeln verzerrt.
»Fräulein
Virchow, es freut mich, dass Sie unter diesen tragischen Umständen
die Kraft fanden, uns aufzusuchen. Aber mein Sohn ist leider vor ein
paar Stunden ausgeritten.«
Viktoria
antwortete mit einem höflichen Gruß. Dann fragte sie, wann
Anton zurückkäme.
»Das
weiß ich leider nicht. Ich werde ihm natürlich ausrichten,
dass Sie hier gewesen sind.«
Viktoria
wippte unruhig mit den Füßen. Bei früheren Besuchen
war ihr stets Kaffee angeboten worden.
»Ich
kann eine Weile warten. Wenn es Sie stört, setze ich mich in
meine Kutsche«, erwiderte sie bissig.
»Oh,
Sie können natürlich hier im Salon warten. Ich lasse Ihnen
gern eine Erfrischung bringen. Aber ich weiß wirklich nicht,
wann Anton …«
Die
Tür öffnete sich und gab Antons zerzausten Haarschopf frei.
»Mutter,
ich suche Sie schon die ganze Zeit, ich brauche …«
Sein
Gesicht versteinerte bei Viktorias Anblick. Er schlug die Augen
nieder und sah plötzlich aus wie ein Schuljunge, der bei einem
Streich ertappt worden war.
»Fräulein
Virchow ist hier, um mit dir zu reden«, flötete die
Baronin mit schriller Heiterkeit. »Ich wusste nicht, dass du
schon wieder zuhause bist.«
Viktoria
unterdrückte den Wunsch, ihrem Verlobten erfreut um den Hals zu
fallen, und musterte ihn eindringlich, während ihr der
Herzschlag in den Ohren hämmerte. Mit seinem unfrisierten Haar
und den verquollenen Augen sah er aus, als wäre er soeben
aufgestanden. Es grummelte in ihrem Magen und sie verspürte
plötzlich das Verlangen, einfach nur wegzulaufen, doch so leicht
wollte sie sich nicht geschlagen geben.
»Das
trifft sich gut. Dann brauche ich nicht länger zu warten«,
meinte sie laut. Die Baronin verzog das Gesicht, aber sie entfernte
sich, nachdem sie ihrem Sohn noch einmal tief in die Augen gesehen
hatte. Antons Gesicht war ihrem Rücken zugewandt, der in der Tür
verschwand, als wolle er seine Mutter durch intensives Starren
zurückhalten. Dann betrachtete er eine Weile die Samtpantoffeln,
in denen seine Füße steckten. Er trug eine Hose aus dünnem
Leinen und ein schlecht sitzendes, da falsch zugeknöpftes Hemd,
was Viktorias Verdacht bestätigte, dass er mitnichten von einem
Reitausflug zurückkehrte.
»Wie
geht es dir, Vicki?«, fragte er und hob endlich sein Gesicht.
Verschlafene Augen musterten Viktoria unter den zerzausten,
honigfarbenen Locken. Sie spürte einen Stich in der Brust, denn
mit einem Mal wurde ihr wieder bewusst, wie
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