Das Geheimnis der Jaderinge: Roman (German Edition)
wieder würde
sie das verschwörerische Augenzwinkern auf dem Gesicht ihres
Vaters erblicken, wenn eine der nörgelnden Bemerkungen ihrer
Mutter sie wie eine spitze Nadel stach.
Viktoria
wischte sich die Augen trocken und ging in den Salon. Er wirkte auf
einmal riesig und leer. Auch ihre Mutter schien schmächtiger als
zuvor, eine kleine, verlorene Gestalt hinter dem großen Tisch.
»Schön,
dass du dich endlich hierher bemühst. Wir müssen dringend
miteinander reden«, wurde Viktoria begrüßt. Sie sank
auf den Stuhl, erleichtert, dass ihre Beine nicht mehr das Gewicht
ihres Körpers tragen mussten. Dann schenkte sie sich eine Tasse
Kaffee ein. Er tat erstaunlich wohl.
»Wir
sind ruiniert, wie du vielleicht schon weißt«, fuhr
Amalia Virchow mit verbissener Miene fort. »Dein Vater, den du
so sehr geliebt hast, hat uns alles genommen.«
Viktoria
fuhr auf. Der Zorn riss sie aus aller Benommenheit.
»Es
waren die Umstände. Die schlechte Wirtschaftslage in den letzten
Jahren. Und dann die Piraten in China. Was konnte mein Vater dafür?«
Ihre
Mutter stieß ein kurzes, trockenes Lachen aus.
»Die
Wirtschaftslage war schlecht, das stimmt, aber deshalb sind nicht
alle Reedereien ruiniert. Die Leidenschaften deines Vaters, auf die
er nicht verzichten konnte, haben unsere Situation verschlimmert. Er
liebte die Kunst, was du ja verstehen kannst. Diese Liebe war nicht
billig. Aber noch teurer kam uns seine Liebe zu einer Schauspielerin
am Thalia-Theater zu stehen. Er machte ihr überaus großzügige
Geschenke. In letzter Zeit war er ihr geradezu verfallen, deshalb
haben wir ihn kaum zu Gesicht bekommen. Nur damit du begreifst, was
ihm wirklich wichtig war.«
Viktoria
hielt sich an der Tischkante fest, denn ihr war, als sei sie in den
Magen getreten worden.
»Man
soll über Verstorbene nicht schlecht reden«, fuhr ihre
Mutter unbeirrt fort. »Also beschränken wir uns auf die
Überlegung, was wir nun tun können. Die Beerdigung ist
nächste Woche. Bis dahin wird man taktvoll mit der
Zwangsvollstreckung warten, aber danach müssen wir dieses Haus
verlassen.«
Die
Worte rauschten an Viktorias Ohren vorbei, während sie
versuchte, sich die Schauspielerin vom Thalia-Theater vorzustellen.
Welche Frau war ihrem Vater wichtiger gewesen als sie selbst? Das
Bild einer verführerischen, berechnenden Schönheit entstand
in ihrem Kopf. Lieber wollte sie diese Unbekannte hassen, als Groll
gegen ihren Vater zu empfinden.
»Mein
Bruder Erik ist bereit, uns für eine Weile aufzunehmen«,
drang die Stimme ihrer Mutter unerbittlich in ihr Bewusstsein. »Bis
geklärt ist, was noch von dem Virchow-Vermögen bleibt.
Hoffentlich gibt es noch ein oder zwei Schiffe, die wir verkaufen
können, um nicht ganz auf die Gnade meiner Familie angewiesen zu
sein.«
Viktoria
fröstelte. Sie mochte den strengen, kalten Onkel Erik nicht.
Ihre Mutter stammte aus einer Familie engstirniger Krämerseelen.
Leider hatte ihr Vater keine Verwandtschaft mehr. Sie zitterte vor
Kälte, als ihr bewusst wurde, wie einsam sie nun war. Dann riss
sie entschlossen die Schultern zurück. Selbstmitleid half nicht.
»Wir
behalten die Schiffe«, mischte sie sich erstmals ins Gespräch.
»Wir suchen eine billigere Unterkunft. Und dann versuche ich,
die Reederei neu aufzubauen.«
Sie
zwang sich weiter zu einer aufrechten Haltung, auch wenn sie selbst
nicht genau wusste, wie sie diesen Plan würde verwirklichen
können. Ihre Mutter verzog erwartungsgemäß das
Gesicht.
»Ein
junges Mädchen wird als Besitzerin einer Reederei niemals ernst
genommen werden«, meinte sie gelassen. Sie zögerte einen
Moment, bevor sie fortfuhr: »Vor allem, wenn diese Dame bereits
einen zweifelhaften Ruf hat.«
Viktorias
Hände formten Fäuste. Das Schwindelgefühl kehrte mit
unerwarteter Heftigkeit zurück, sodass sie kurz fürchtete,
sich übergeben zu müssen.
»Ach
ja, welchen Ruf habe ich denn?«
»Du
giltst als exzentrisch und verwöhnt«, erklärte ihre
Mutter sogleich. »Das hast du deinem Vater zu verdanken. Jedes
Mal wenn ich versuchte, korrigierend auf dein Verhalten einzuwirken,
fiel er mir in den Rücken. Das hat dich ins Gerede gebracht, vor
allem durch dein dummes Benehmen mit Anton von Scharpenberg.«
Viktoria
fühlte, wie ihr Schweiß aus den Poren trat. Sie nahm einen
weiteren Schluck Kaffee, doch
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