Das Geheimnis der Jaderinge: Roman (German Edition)
dass sie viele Wochen lang an der Seite dieser zwei
Menschen verbracht hatte und an ihre Gegenwart gewöhnt war.
Daher erzählte Viktoria etwas von schlechten Einflüssen,
denen sie ihre zwei gerade zum Christentum konvertierten Dienstboten
nicht aussetzen mochte. Joseph Andrews nickte mit übertrieben
ernster Miene. Es sei sicher schwer, in diesem Land das Wort Gottes
zu predigen, meinte er, und verwies auf eine Seitenkammer neben der
Kabine.
»Der
erwachsene Mann kann hier schlafen«, schlug er mit vielsagendem
Blick vor. Viktoria wollte sich auf keine längere Diskussion
einlassen, ob Jinzis Aufenthalt in ihrem Schlafgemach nun
unschicklich war oder nicht. Wenn Joseph Andrews nur den geringsten
Verdacht bekam, dass ein Chinese weitaus mehr für sie war als
nur ein gewöhnlicher Bediensteter, würde er jeden Respekt
vor ihr auf der Stelle verlieren.
Zum
Glück arrangierte Jinzi sich ohne Wutausbrüche oder bissige
Kommentare mit der Situation und bezog die Kammer, in der eine Matte
lag. Während er sich dort mit Dewei ausruhte, kam Viktoria
wieder in den Genuss lang entbehrter Annehmlichkeiten. Dienstboten
brachten eine kleine Holzwanne herein, in der sie sich ausgiebig
waschen konnte. Sie klopfte an die Tür zur Kammer, um auch Jinzi
und Dewei die Möglichkeit einer gründlichen Reinigung
anzubieten, aber nur der Junge nahm den Vorschlag an. Viktoria begann
zu ahnen, dass es in den nächsten Tagen durchaus von Vorteil
sein könnte, wenn eine geschlossene Tür zwischen ihr und
dem Liebhaber aus der Höhle lag.
Während
Dewei noch in der Wanne plätscherte, legte sie sich für
eine Weile auf das Bett, ohne irgendeinen Gedanken daran zu
verschwenden, ob auch die Wäsche gewechselt worden war. In ihrem
früheren Leben hätte sie niemals freiwillig in dem
benutzten Bettzeug eines fremden Mannes gelegen, doch nun schien es
einfach ein Genuss, beim Einschlafen weder kalte Steine noch feuchte
Erde unter sich zu spüren. Es dämmerte bereits, als sie
erwachte und neue Lebenskräfte durch ihren Körper strömen
fühlte. Entschlossen stand sie auf. Dewei war nicht zu sehen,
vermutlich hatte er sich wieder zu Jinzi in die Kammer gelegt.
Viktoria staunte, dass ihr dies einen Stich versetzte, beschloss
aber, beide gemeinsam schmollen zu lassen, wenn sie denn unbedingt
wollten.
Sie
öffnete den Koffer, um nachzusehen, wie ihre spärlichen
Habseligkeiten die abenteuerliche Reise überstanden hatten. Die
drei Kleider rochen zwar etwas muffig, da sie beim Schwimmen ans Ufer
des gelben Flusses nass geworden sein mussten, doch davon abgesehen
waren sie glücklicherweise unversehrt. Sie legte ihre Bücher
auf Joseph Andrews Schreibtisch, damit auch aus dem Papier alle
Feuchtigkeit entweichen konnte, schüttelte dann ihre Kleidung
aus. Sie wählte das Musselinkleid, obwohl es dafür schon
etwas zu frisch war, doch hatte der leichte Stoff am wenigsten
Feuchtigkeit aufgesaugt. In einem kleinen Spiegel in der Ecke der
Kabine musterte sie nervös ihre Erscheinung. Ihr Gesicht schien
etwas eingefallen, das Haar war zerzaust, doch insgesamt bot sie
keinen abstoßenden Anblick. Erleichtert zog sie den Kamm aus
ihrem Koffer, um die Locken in Form zu bringen. Sie drehte und
wendete sich in dem vertrauten Gefühl, dass ein weiter Rock um
ihre Beine schwang. Die chinesischen Hosen waren praktischer gewesen,
aber in europäischer Kleidung empfand sie sich als wesentlich
attraktiver. Summend machte sie ein paar Tanzschritte. Es war ein
herrliches Gefühl, sich selbst wieder zu gefallen. Nur etwas
Schmuck fehlte noch.
Sie
eilte wieder zum Koffer. Die Erinnerung an den Verlust der letzten
Erbstücke tat weh, aber etwas war zum Glück noch übrig.
Ungeduldig zog sie den Drachenreif heraus und erstarrte.
Der
Anblick von zwei vertrauten Köpfen ließ eine Sturmflut von
Erinnerungen hochwallen. Ein plötzlicher Kuss, die Wärme
einer Umarmung und der glatte, sehnige Körper eines Mannes, der
sich ihren Berührungen dargeboten und unbekannte Sehnsüchte
in ihr geweckt hatte. Sie sank auf den Stuhl vor dem Schreibtisch,
vergrub ihr Gesicht in den Händen. Es ergab keinen Sinn, so zu
tun, als ob nichts geschehen wäre. Jinzi hatte ihr nichts Übles
getan und verdiente es nicht, wie Luft behandelt zu werden. Sie
mussten sich aussprechen, am besten jetzt. Sicher würde jemand
bald ein Abendessen bringen und danach konnte sie Dewei bitten, für
eine Weile in die Kammer zu gehen. Viktoria wusste nicht,
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