Das Geheimnis der Jaderinge: Roman (German Edition)
Nacht hatte die Welt für sie nur noch aus Jinzis
Körper und dem ihren bestanden. Nun fürchtete sie auf
einmal, Jinzi anzusehen, als würde das Geschehene erst
endgültige Wirklichkeit werden, wenn ihre Blicke einander wieder
begegneten.
Viktoria
wickelte sich rasch in eine Decke und aß einige von den
Früchten. Dann sammelte sie ihre Kleidung und schlich durch den
Felsspalt, um sich unbeobachtet anziehen zu können. Ihr wurde
wohler, sobald sie allein war. Noch spürte sie das Blut in ihren
Adern pochen, genoss die völlige Entspannung ihrer Glieder, doch
ihr Verstand dämpfte dieses Wohlbehagen mit jedem neuen
Gedanken. Sie war schamloser gewesen als jemals bei Anton am
Alsterufer, hatte sich einem Mann in die Arme gestürzt, der als
Gatte niemals in Frage kam, selbst wenn er einen derartigen Vorschlag
machen würde, wovon nicht auszugehen war. Ihre Finger zitterten,
als sie die Froschverschlüsse an ihrer Jacke schloss. Am
liebsten wäre sie in dieser kleinen Höhle geblieben, um
sich nicht mehr der Welt stellen zu müssen.
Das
Tageslicht blendete, obwohl es noch nicht einmal richtig hell war.
Morgennebel verschleierte die Landschaft. Es war beißend kalt.
Viktoria kuschelte sich in ihre Decke. Auf einmal fiel es ihr sogar
schwer, die wärmende Nähe von Deweis Körper zu suchen.
Der Junge musste etwas mitbekommen haben. Vielleicht wusste er nicht
viel von diesen Dingen, doch steckte in jedem halbwüchsigen
Knaben sicher eine Ahnung. Wenn sie sich ihm jetzt näherte,
würde er es vielleicht missverstehen. Viktoria ballte ihre Hände
zu Fäusten. Die Dinge waren so kompliziert geworden, dass sie
ihr über den Kopf zu wachsen begannen. Mit halb geschlossenen
Augen lehnte sie sich auf dem Karren zurück. Jinzi hatte wie ein
brillanter Virtuose mit ihrem Körper gespielt und ein lüstern
schreiendes Wesen aus ihr gemacht. Anton, der weltgewandte Dandy,
konnte im Vergleich zu ihm nur als mittelmäßiger Liebhaber
bezeichnet werden.
Diese
Erkenntnis bereitete Viktoria für einen Augenblick hämische
Freude. Dann fragte sie sich, wo Jinzi derartiges Geschick im Umgang
mit dem weiblichen Körper erworben haben konnte. Eine Frau
musste es ihm gezeigt haben, eine in Liebesdingen selbst sehr
erfahrene Dame, der er zu gefallen bemüht gewesen war.
Viktoria
zuckte entsetzt zusammen, als ihr bewusst wurde, wer Jinzis Lehrerin
in Liebesdingen gewesen sein musste.
»Ist
irgendwas? Geht es dir nicht gut?«, hörte sie Deweis
Stimme. Er musterte sie so besorgt, dass sie alle Bedenken vergaß
und den Arm um seine schmalen Schultern legte. Wenigstens hatte die
Beziehung zu ihm durch den nächtlichen Fehltritt keinen Schaden
genommen.
Während
der Karren durch die morgendliche Landschaft holperte, wurde Viktoria
endgültig bewusst, dass sie zu der Geliebten eines
Jahrmarktgauklers geworden war, der einer alten Hure als Zeitvertreib
diente. Bei Anton hatte sie ihr Verhalten wenigstens durch eine
offizielle Verlobung erklären können, doch nun gab es
nichts, um einen derartigen Fehltritt zu entschuldigen. Die Stimme
ihrer Mutter hallte unerbittlich in ihrem Kopf: Dummheit,
unbeschreibliche Dummheit.
Sie
brauchten noch einige Tage, um das gelbe Meer zu erreichen. Viktoria
vermied es zunächst geflissentlich, mit Jinzi allein zu sein,
denn sie fürchtete sich vor jeder Anspielung auf die Ereignisse
in der Höhle. Dewei fand zwar Gründe, für eine Weile
zu verschwinden, wurde aber von ihr zurückgehalten. Sie fühlte
sich verletzlich und schutzlos, als wäre ihr die Haut vom
Fleisch gezogen worden. Jinzi versuchte zunächst immer wieder,
Blicke mit ihr zu tauschen, doch als sie diese zaghaften Annährungen
zurückwies, verfiel er in die gewohnte, kalte Zurückhaltung.
Er trat wieder als Akrobat in Dörfern auf, um ihnen das nötige
Essen zu besorgen. Die Ausbeute war mager, reichte aber knapp, um den
schlimmsten Hunger zu bekämpfen. Viktoria fiel auf, dass er in
stillschweigender Absprache mit Dewei stets die größte
Portion in ihre Richtung schob. Sie hätte sich gern für
diese Großzügigkeit bedankt, doch mied Jinzi bereits jeden
Versuch, mehr als die notwendigsten Worte mit ihr zu wechseln. In
eisigem Schweigen erreichten sie die Küste des gelben Meeres,
das sich in endloser, schimmernder Weite vor ihren Augen erstreckte.
Beim
Abstieg zum Ufer rutschte das Maultier aus und brach sich ein Bein.
Jinzi vermochte ein Kippen des Karrens zu verhindern,
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