Das Geheimnis der Jaderinge: Roman (German Edition)
Papieren hoch. Unter seinen Augen lagen
dunkle Schatten, doch sonst wies nichts mehr auf seinen gestrigen
Zustand hin. Seine Kleidung saß tadellos, und er hatte sich
frisch rasiert.
»Das
ist möglich«, erwiderte er, wobei sein Blick Viktoria nur
einen Moment lang streifte. Die blauen Augen schienen erstaunlich
kalt. »Ich werde Sie selbstverständlich nach Shanghai
bringen, Miss Virchow. Sie können auch weiterhin in meiner
Kabine wohnen.«
Was
gestern noch eine ritterliche Geste gewesen war, klang nun wie ein
Akt der Gnade gegenüber einem Wesen, das sie eigentlich nicht
verdiente. Viktoria fröstelte. Joseph Andrews wusste, dass er
sich vor ihr blamiert hatte, und würde ihr das niemals
verzeihen.
Entschlossen
nahm sie auf einem Stuhl Platz, obwohl er sie nicht dazu aufgefordert
hatte.
»Das
ist sehr freundlich von Ihnen«, zwang sie sich zu sagen. »Aber
mein … mein Diener, den sie gestern Nacht einsperren ließen
… wäre es nun nicht an der Zeit, ihn wieder
freizulassen?«
Joseph
Andrews stieß einen jener gequälten Seufzer aus, den sie
bereits von Robert Huntingdon kannte.
»Ihr
Diener – oder was auch immer Sie in ihm sehen - hat mich
angegriffen«, stellte er knapp fest. Viktoria hob hilflos die
Hände.
»Aber
er wollte mich doch nur schützen. Er hat die Lage leider völlig
missverstanden«, log sie verzweifelt.
Joseph
Andrews warf ihr einen jener Blicke zu, den er selbst an seinen
Lehrern gehasst hatte. Schulmeisterlich, abfällig und
selbstgerecht.
»Das
mag Ihre Sichtweise sein, meine verehrte Miss Virchow, aber wir
Briten und auch andere Staatsbürger zivilisierter Nationen sind
in diesem Land leider schon öfter Opfer brutaler Übergriffe
geworden. Ein derartiges Verhalten kann keineswegs geduldet werden.
Wir müssen klare Zeichen setzen, verstehen Sie?«
Viktoria
verstand nur, dass dieser Junge ein paar kräftige Ohrfeigen
verdient hätte. Sie musste sich mit aller Kraft zur Ruhe
zwingen.
»Mein
Diener hatte keineswegs die Absicht, Sie zu verletzten, Mr. Andrews.«
Sie
hätte hinzufügen können, dass Joseph Andrews ansonsten
nicht so glatt und geschniegelt auf seinem Stuhl hätte thronen
können, doch schien eine derartige Bemerkung ungeschickt.
»Ich
bedauere, dass Sie sein Benehmen derart missverstehen«, fuhr
sie daher fort. »Sie können uns gern wieder an einem Ufer
absetzen. Ich bin mir sicher, dass ich mit meinen Bediensteten sicher
nach Shanghai kommen kann.«
Der
junge Mann runzelte kurz die Stirn.
»Sie
können das Schiff natürlich jederzeit verlassen. Ich halte
Sie keineswegs gewaltsam fest.«
Er
lächelte. Viktorias Handflächen juckten vor Verlangen, auf
seinen zart geröteten Wangen zu landen.
»Ihren
Boy können Sie auch mitnehmen. Aber der Aufwiegler wird der
Gerichtsbarkeit in Shanghai übergeben werden. Dabei verhalte ich
mich großzügig. Ich hätte gestern Grund genug gehabt,
ihn auf der Stelle zu erschießen.«
Viktorias
Kinn schoss in die Höhe. Das wurde langsam zu viel.
»In
diesem Fall, Mr. Andrews, werde ich auch eine Aussage über Ihr
Benehmen mir gegenüber machen müssen«, erklärte
sie laut.
Sein
Blick wurde so unvorstellbar kalt, dass Viktoria zu frieren begann.
Die menschliche Seite von Joseph Andrews würde sie niemals mehr
erreichen können. Am gestrigen Abend war eine Tür zwischen
ihnen zugefallen.
»Mein
Benehmen? Ich verstehe nicht, was Sie meinen«, erwiderte Joseph
Andrews mit unbewegter Miene. »Ich habe Ihnen meinen Schutz
angeboten, Sie in meiner Kabine untergebracht. Und das obwohl Sie,
wenn ich es mir erlauben darf, offen zu reden, eine recht
zwielichtige Abenteurerin scheinen. Wie eine Missionarin sehen Sie
keineswegs aus. Sie reisen allein mit zwei Chinesen herum, haben, wie
Sie mir selbst erzählten, in den Frauengemächern eines
Mandarins gelebt. Ich bezweifle, dass Sie einen guten Leumund haben,
Miss Virchow.«
Viktorias
Beine begannen zu zucken. Sie wäre bereit gewesen, nochmals in
eisige Gewässer zu springen, nur um von dem Schiff dieses Mannes
zu kommen, doch konnte sie Jinzi hier nicht einfach zurücklassen.
»Darf
ich nach meinem Diener sehen?«, fragte sie leise. Joseph
Andrews nickte nach kurzem Zögern.
»Wenn
Sie es für nötig halten, wird man Sie zu ihm bringen.«
Viktoria
stand auf
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