Das Geheimnis der Jaderinge: Roman (German Edition)
auf
einen Abschied von Joseph Andrews, sondern suchte sogleich das
deutsche Konsulat auf, wo sie neue Papiere erhielt und etwas Geld, um
gemeinsam mit Dewei in einem billigen Hotel unterzukommen. Man bot
sich an, ihr die Heimreise zu bezahlen, doch sie versicherte, sich
sogleich um eine neue Anstellung zu bemühen.
Das
Hotel befand sich in einer Seitenstraße der Foochow Road, nicht
weit vom Zollhaus entfernt. Es gehörte einem ehemaligen
schottischen Seemann namens Ian McGregor, der sich bereits vor
fünfzehn Jahren dauerhaft in Shanghai niedergelassen hatte. Den
Grund dafür, eine drahtige Chinesin, die ihm kaum bis zur
Schulter reichte, aber deren schrille Stimme kaum zu überhören
war, hielt er meist in den hinteren Räumen des Hotels versteckt,
ebenso wie alle Kinder, die inzwischen aus dieser Verbindung
entstanden waren. Die Kundschaft von Ian McGregor war rein westlich,
setzte sich aus kleinen Angestellten auf der Suche nach einer festen
Bleibe, Abenteurern und sonstigen Leuten ohne besonderes Vermögen
zusammen. Die Räume waren schäbig eingerichtet, doch
sauber, was wohl der meist unsichtbaren Chinesin zu verdanken war.
Viktoria war froh über eine Bleibe mit etwas Privatsphäre.
Sie
suchte zunächst einmal das Haus der Huntingdons auf, da sie auf
die Möglichkeit zu einer Unterhaltung mit Margaret hoffte, doch
wurde sie bereits vom Hausdiener abgewiesen. Der alten Dame ging es
zu schlecht, um Besuch zu empfangen, lautete die knappe Botschaft.
Viktoria war klar, dass sie kein gern gesehener Gast bei dieser
Familie mehr war, und so zog sie widerstandslos von dannen. Das
Problem würde sich irgendwie lösen lassen, doch zunächst
musste Jinzi wieder auf freiem Fuß sein. Voller Tatendrang
machte sie sich daran, Briefe an das deutsche und englische Konsulat
zu verfassen, um die Ereignisse auf Joseph Andrews Schiff in einem
für Jinzi günstigeren Licht darzustellen. Sie verzichtete
auf Anklagen gegen den Engländer, denn ihr war klar, wie schnell
er seine Drohung wahrmachen und sie selbst in Verruf bringen konnte,
stellte Jinzis Angriff daher als eine auf einem Missverständnis
beruhende Maßnahme zu ihrem Schutz dar.
Dann
wartete sie zwei Wochen lang vergeblich auf Antworten. Als diese
ausblieben, wollte sie selbst in den Konsulaten vorsprechen, wurde
jedoch mit Entschuldigungen vertröstet. Es fiel ihr schwer,
nachts Schlaf zu finden, da Jinzi blutig geschlagen oder gar
erschossen ihre Träume heimsuchte. Zwar versicherte der
uniformierte junge Mann am Eingang des britischen Konsulats ihr
stets, dass der gefangene Chinese wohlauf sei, doch schien niemand so
recht zu wissen, was aus ihm werden sollte. Ein Prozess war geplant,
ein Termin allerdings nicht in Aussicht und der Konsul hatte
grundsätzlich keine Zeit, Viktoria persönlich zu empfangen.
Nach
dem fünften dieser erfolglosen Besuche schlenderte Viktoria
ziellos den Bund hinab, denn es graute ihr vor der Stille des
Hotelzimmers. Dewei hatte begonnen, unter der Fuchtel von Ian
McGregors inoffizieller Ehefrau in der Hotelküche auszuhelfen,
wodurch er den Aufenthalt für sie beide zu verlängern
hoffte. Das deutsche Konsulat würde gewiss nicht ewig zahlen.
Viktoria
ging an den monumentalen europäischen Geschäftshäusern
vorbei, ließ die Oriental Bank hinter sich und wollte nach dem
Zollhaus abbiegen, um nun doch den Heimweg anzutreten. Sie erblickte
einen Straßenhändler, der Nudeln und Teigtaschen anbot. In
dem chinesischen Beutel, den Dewei ihr als Ersatz für das
verlorene Ridikül besorgt hatte, klimperten noch ein paar
Dollars, der Rest der Almosen des Konsulats. Sie verspürte ein
hungriges Ziehen in ihrem Magen. Nach den langen Monaten, da sie kaum
europäisch gegessen hatte, war die chinesische Kost ihr so
vertraut geworden, dass sie sich nach ihr sehnte. Gerade hatte sie in
den Beutel gegriffen, als eine vage vertraute Stimme im Hintergrund
erklang.
»Mademoiselle
Virchow! C’est vraiment vous!«
Viktoria
wandte sich um und sah endlich wieder ein vertrautes Gesicht in der
Menschenmenge. Vor Freude wäre sie Anette Desmoulins fast um den
Hals gefallen, doch wirkte die Französin auf einmal so elegant,
dass sie vor einer Berührung zurückschreckte. Die einst
plumpen Körperformen hatten sich in eine weiche, üppige,
aber durchaus anziehende Figur verwandelt, die in taubenblauer Seide
steckte. Ein kleines, keckes Hütchen zierte Anettes
Hochsteckfrisur und um ihre
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