Das Geheimnis der Jaderinge: Roman (German Edition)
und zwang ihre Füße, sich Richtung Tür zu
bewegen. Der Zorn rauschte in ihren Ohren. Als ihre Hand auf der
Klinke lag, blieb sie kurz stehen.
Was
hatte sie noch zu verlieren?
»Wenn
Ihre Maud ein so nettes Mädchen ist, wie Sie behaupten, dann ist
sie als Ihre zukünftige Ehefrau zu bedauern«, zischte sie,
bevor sie durch den Türspalt verschwand.
******
Er
war in einer winzigen Kammer gleich neben der Schiffsküche
eingesperrt worden. Scharfe Gerüche schwappten herein, und
Viktoria bemerkte erleichtert zwei leere Essschüsseln in seiner
Nähe. Wenigstens ließ man ihn nicht hungern.
Er
kauerte in einer Ecke, hatte die Hände um die Knie geschlungen
und starrte ins Leere. Auf seiner Wange entdeckte sie einen
blaugrünen Fleck, doch ansonsten schien er unversehrt, da er
klug genug gewesen war, keinen Widerstand gegen seine Verhaftung zu
leisten. Die Diener von Joseph Andrews hätte er vielleicht
niederschlagen können, aber das Schiff war zu weit vom Ufer weg,
um eine Flucht möglich zu machen.
Viktoria
zwang wieder ein Lächeln auf ihr Gesicht, als sie eintrat. Eine
unsichtbare Hand schnürte ihr die Kehle zu. Die Angst um Jinzis
Wohlergehen vermischte sich mit unklaren Schuldgefühlen, obwohl
sie sich keines Vergehens bewusst war. Aber ohne ihre Einmischung in
Jinzis Leben wäre er Joseph Andrews niemals begegnet.
»Es
tut mir leid«, sagte sie und blieb ratlos stehen.
Etwas
blitzte in seinen Augen auf, doch konnte sie nicht einschätzen,
ob es Freude war oder Zorn. Zögernd trat sie ein paar Schritte
vor, nahm eine zerschlissene Matte und einen Nachttopf zur Kenntnis.
Jinzis Augen schienen ihrem Blick zu folgen, denn er schob den
Nachttopf mit einer raschen Bewegung hinter sich. Viktoria hockte
sich vor ihm auf den Boden, obwohl sie dadurch Gefahr lief, eines
ihrer wenigen, guten Kleider zu beschmutzen. Nervös strich sie
Stoffbahnen glatt. In chinesischer Bauernkleidung war vieles
unproblematischer gewesen.
»Du
hast es missverstanden«, erklärte sie. »Oder auch
nicht. Aber ich wäre mit ihm allein fertig geworden. Er war nur
ein unglücklicher, betrunkener Junge.«
Jinzis
Kinn schoss in die Höhe.
»Ich
habe viele solcher Jungen im Bordell erlebt. Ich weiß, was sie
tun können. Er gefiel mir nicht, von Anfang an. Es gefiel mir
nicht, wie er dich ansah.«
Sie
zuckte hilflos mit den Schultern.
»Er
fühlte sich allein in China. Ich war ein vertrautes Gesicht«,
versuchte sie, das Verhalten von Joseph Andrews auch für sich
selbst zu erklären.
»Warum
dann nicht zuhause geblieben?«, kam es sofort zurück.
»Wir
können alle nicht immer tun, was wir wollen«, entgegnete
Viktoria. Zu ihrem Erstaunen schien Jinzi das hinzunehmen, denn er
erwiderte nichts.
»Sind
sie hier … einigermaßen nett zu dir?«, tastete
Viktoria sich weiter. Er warf ihr einen nachsichtigen Blick zu.
»Die
Chinesen hier bewundern mich. Sie denken, ich habe Taipan geschlagen.
Das wollen sie alle selbst gern tun.«
Viktoria
lachte auf.
»Ich
habe es mir vor einer Weile auch gewünscht.«
Es
tat weh, dass er nicht in ihr Lachen einstimmte.
»Ich
wusste, Lao Wai machen Ärger«, entgegnete er nur. Sie war
sich nicht sicher, ob er sie nicht in diesen Vorwurf miteinbezog,
doch änderte dies nichts an dem Drang, ihn in die Arme zu
schließen. Hilflos hob sie ihre Hände, wagte es aber
nicht, sie auf seinen Körper zu legen, so kalt und abweisend
schien seine in sich gekehrte Haltung. Auf einmal wurde die Sehnsucht
nach dem Moment in der Höhle, da es auf einmal ganz
selbstverständlich gewesen war, ihn zu berühren, derart
stark, dass ihr Tränen in die Augen stiegen.
»Ich
bringe es in Ordnung«, versicherte sie ihm und auch sich
selbst. »Sobald wir in Shanghai sind, wirst du wieder
freigelassen.«
Er
nickte nur kurz, um ihre Worte zur Kenntnis zu nehmen. Dann schwieg
er. Viktoria suchte nach einer Möglichkeit, Mitgefühl,
Zuneigung und Reue über ihr Verhalten nach der Nacht in der
Höhle passend auszudrücken, doch fürchtete sie, er
könne dies als leeres Gerede abtun. So saß sie eine Weile
ebenfalls schweigend da wie er, um sich schließlich zu
verabschieden.
5. Kapitel
In
Shanghai wurde Jinzi dem englischen Konsulat übergeben, das ihn
sogleich hinter Schloss und Riegel setzte. Viktoria verzichtete
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