Das Geheimnis der Jaderinge: Roman (German Edition)
Manchen
Frauen würden vielleicht morden, um mit über 50 noch so
aussehen zu können, schoss es ihr durch den Kopf.
Sie
knickste. Auf einmal fühlte sie sich ungelenk und plump, so wie
damals gegenüber Lao Tengfeis Lieblingsfrau Meigui.
»Zǎo'ān«,
begann sie und sprach dann jene Sätze aus, die sie gemeinsam mit
Dewei eingeübt hatte. Dass sie dankbar sei, hier empfangen zu
werden. Dass Jinzi in Schwierigkeiten geraten sei und nur die Hilfe
einer sehr einflussreichen chinesischen Person ihn noch retten könne.
Sie kam sich vor wie ein Schulmädchen, das einer strengen
Lehrerin auswendig gelernte Gedichte vortrug, merkte, dass sie sich
ein paar Mal verhaspelte, die Töne nicht richtig traf, und
hoffte inständig, dennoch einigermaßen verständlich
zu klingen.
Jede
ersehnte oder befürchtete Reaktion blieb aus. Shen Akeu starrte
nur weiter in Viktorias Gesicht, als erwarte sie, darin die Antwort
auf eine wichtige Frage zu finden. Viktoria spürte, wie ihr der
Schweiß in kleinen Bächen über den Rücken lief
und sie kitzelte. Ihre Finger hatten sich bereits nervös
verknotet. Vielleicht sprach Shen Akeu nur den Shanghaier Dialekt,
obwohl sie sich auch oft in Peking aufhielt.
»Brauchen
wir einen Dolmetscher«, begann sie sehr langsam und deutlich.
Shen Akeu hob nur die Hand, um sie auf einen Stuhl zu winken. Dann
holte sie eine weitere Tasse aus einem Regal, füllte sie mit
Teeblättern, goss heißes Wasser darauf und schob das
Getränk in Viktorias Richtung.
»Sie
brauchen sich nicht weiter zu plagen«, kam es nun in einem
fehlerfreien, wenn auch stark akzentuierten Englisch, das Viktoria
bereits von Yazi kannte. »Aber Sie sind sehr gut. Die meisten
meiner Mädchen, die aus allen möglichen Regionen kommen,
sprechen nicht halb so fließend Mandarin. Dabei heißt es
oft, ihr Lao Wai könnt unsere Sprachen gar nicht lernen.«
Viktoria
war zu baff, um etwas zu erwidern. Sie stellte fest, dass sie sich
durchaus geschmeichelt fühlte. Shen Akeu schob einen Melonenkern
zwischen ihre Zähne, zerbiss ihn und spuckte aus. Diese Unart
hatte Viktoria sogar bei den vornehmsten chinesischen Damen gesehen.
»Ich
habe immer gedacht, dass das Unsinn ist«, fuhr die Hure fort.
»Der Mensch kann so ziemlich alles lernen, wenn er sich nur
genug bemüht.«
Sie
nippte an ihrer Teetasse. Viktoria setzte sich und folgte dem
Beispiel, denn es schien ihr die angebrachte Verhaltensweise. Der Tee
war stark aromatisiert und duftete nach exotischen Blüten. Sie
hatte die Untertasse auf die Tasse gelegt, wie Chinesen es taten.
Kurz glaubte sie, Staunen auf Shen Akeus Gesicht zu erkennen, und
empfand Stolz, etwas richtig gemacht zu haben.
»Jinzi
ist also in Schwierigkeiten«, meinte Shen Akeu. »Ich
wusste, dass es dazu kommt.«
»Aber
warum?«
»Weil
ein halbchinesischer kleiner Gaukler zum Abschaum der Gesellschaft
gehört, ebenso wie ich«, antwortete die Hure gelassen.
»Ich habe viele Jahre meines Lebens damit zugebracht, reichen
Männern zu gefallen, um dem Schmutz zu entkommen. Dann wollte
ich selbst einen jungen, hübschen Kerl, der sich anstrengt, mir
das Leben schön zu machen. Jinzis Vorgänger enttäuschten
mich. Sie rissen hinter meinem Rücken Witze über mich und
belästigten meine Mädchen. Ich musste sie loswerden.«
Viktoria
wollte nicht fragen, auf welche Weise Shen Akeu sie losgeworden war.
Sie lauschte mit einer Mischung aus Widerwillen und Faszination.
»Jinzi
war ein kluger Junge, loyal und verlässlich. Seine Mutter hatte
ihn gut erzogen. Er hatte mehr Respekt vor Frauen als die meisten
chinesischen Männer, ja als Männer allgemein, wenn Sie mich
fragen. Mit seinem aufbrausenden Temperament verstand ich umzugehen,
es gefiel mir sogar, aber dann …«
Ein
weiterer Melonenkern wurde zerbissen.
»Dann
kommt so ein fremdes Wesen mit gelbem Haar und großen Füßen
und er ist nicht mehr der aufmerksame Liebhaber, den ich kannte. Er
will weg, nach Shanghai, zusammen mit dieser Frau aus einer anderen
Welt.«
Der
letzte Satz hatte so bitter geklungen, dass Viktoria zusammenfuhr.
»Ich
glaube, das missverstehen Sie. Er wollte wegen seiner Mutter nach
Shanghai, mich nahm er nur widerwillig mit. Ich hatte nie den
Eindruck, dass er mich besonders gut leiden kann. Die meiste Zeit war
er sehr … unhöflich zu mir. Vermutlich machte mein
Anblick ihn nur
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