Das Geheimnis der Jaderinge: Roman (German Edition)
Shanghai
angeschwemmt worden waren. Die Frage, woher sie Shen Akeu kannten,
erübrigte sich. Jedenfalls war die berüchtigte Dame bereit,
Viktoria zu empfangen, ja schien sehr genau zu wissen, um wen es sich
bei dieser Fremden handelte. Drei Wochen später saß
Viktoria in einer Jinrikscha, die sie zum zweiten Mal in die
verwinkelten, schmutzigen Gassen der Chinesenstadt trug. Diesmal
bemerkte sie, dass aus fast allen Fenstern zum Trocknen aufgehängte
Wäsche baumelte, was ihr bei dem ersten Ausflug in diese fremde
Welt entgangen war, vielleicht aufgrund zahlreicher Eindrücke,
die noch verstörender gewesen waren. Die Fußbinden
chinesischer Frauen streiften fast ihren Kopf, während sie unter
ihnen dahinrollte. Sie musterte die engen Kaufläden, in denen
Lebensmittel, Kleidung und anderer Krimskrams dargeboten wurde,
während die Händler nach Käufern brüllten. Die
Elendsgestalten lungerten weiterhin vor Hausecken, lagen manchmal
leblos auf der Straße und hielten den Verkehr auf, bis jemand
sie zur Seite trat. Der Anblick war unangenehm, doch entsetzte er
Viktoria nicht mehr so sehr, dass sie auf der Stelle hätte
fliehen wollen. Sie war China mit all seinem Glanz und Schmutz
allmählich gewöhnt. Ein großer Tempel fiel ihr auf,
eine mit Girlanden geschmückte goldene Statue gleich hinter dem
Eingangstor, vor der ein paar Menschen sich verneigten. Es gab auch
hier Restaurants, herrschaftliche Häuser und ein sehr hübsches
Teehaus inmitten eines Goldfischteichs, zu dem eine Brücke im
Zickzack führte. Doch während die Chinesenstadt ihr keinen
völligen Widerwillen mehr einflößte, krampfte ihr
Magen sich in Erwartung der bevorstehenden Begegnung mit der Hure
nervös zusammen. Dewei war alles andere als erfreut gewesen über
ihren neuen Plan. Menschen wie Shen Akeu konnten andere Menschen
einfach verschwinden lassen, hatte er ihr als Warnung mit auf den Weg
gegeben. Selbst eine Lao Wai, die nicht unbedingt wichtig war.
Viktoria zwang sich, ruhig zu bleiben. Ian McGregor wusste, wohin sie
unterwegs war. Seine Freunde kannten Shen Akeu und waren noch am
Leben. Die Hure war vermutlich kein Monster. Aber was für ein
Mensch mochte sie wohl sein?
Die
Jinrikscha hielt vor einem kleinen, mit den üblichen Laternen
und Schnitzereien verzierten Haus, das sauberer wirkte als die
meisten anderen dieses Stadtteils. Ein kleiner Mann mit Spitzbart
begrüßte Viktoria mit einer leichten Verbeugung und
deutete an, dass sie ihm folgen sollte. Sie warf einen letzten Blick
auf die Gasse, wo dicht gedrängte, mit Wäsche behangene
Gebäude dem Sonnenlicht das Eindringen erschwerten. Würde
es ihr gelingen, wieder aus diesem Dickicht herauszufinden, wenn sie
die Begegnung mit der Hure heil überstand?
Ihr
blieb wenig Zeit zum Nachdenken, denn der Mann führte sie
zielstrebig durch ein paar Räume, in denen junge Mädchen
auf Bänken und Kissen saßen. Sie rauchten - was genau,
vermochte Viktoria nicht einzuschätzen - würfelten,
plapperten und lachten. Shen Akeus Huren wirkten erstaunlich
gelassen, zeigten weder Spuren von Auszehrung noch von
Misshandlungen, wie manche andere Mädchen, die sie an den
Straßenecken von Shanghai hatte stehen sehen. Viktoria
erinnerte sich vage, dass Yazi Shen Akeu einmal als großmütig
im Umgang mit ihren Angestellten bezeichnet hatte, doch beruhigte
dieser Gedanke ihr flatterndes Herz nur sehr mäßig.
Es
ging eine schmale Treppe hinauf, dort öffnete der Mann eine Tür
und wies Viktoria hinein. Sie meinte, auf der Schwelle leicht zu
schwanken. Hier also wartete die Hure.
Sie
saß hinter einem Tisch und rauchte ebenfalls. Ihr Blick war
klar, es musste sich um eine gewöhnliche Tabakpfeife handeln.
Vor ihr standen eine Teetasse, ein Teller mit Melonenkernen und
andere Knabbereien, die Viktoria nicht zu identifizieren vermochte.
Ihr Gesicht schien weniger geschminkt als bei den bisherigen
Begegnungen mit Viktoria, es wies nun sehr deutliche Einkerbungen
zwischen den Brauen und an den Mundwinkeln auf. Unter den Augen war
die Haut ebenfalls erschlafft, doch konnten diese kleinen Mängel
der ebenmäßigen Harmonie des Knochenbaus nichts anhaben.
Das Haar war zu einem schlichten, pechschwarzen Knoten geschlungen,
der glänzte, als wäre er lackiert. Zwei schlichte Perlen
schimmerten in den Ohrläppchen. Viktoria musterte fasziniert den
langen, schmalen Hals und die elegante Zartheit der Schultern, die
einen mädchenhaft schlanken Körper andeuteten.
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