Das Geheimnis der Jaderinge: Roman (German Edition)
Leben Sie wohl, Herr von Brandt. Ich
wünsche Ihnen viel Erfolg beim Aufbau einer deutschen Kolonie.«
Sie
straffte die Schultern, knickste und verließ den Raum. Zum
ersten Mal seit langer Zeit hatte sie das Gefühl, sich souverän
verhalten zu haben.
******
Viktoria
ging wieder einmal zu Fuß nach Hause. Die ersten Schneeflocken
tanzten in der Luft und am Bund hatten einige europäische
Geschäfte ihre Schaufenster weihnachtlich dekoriert. Sie bog in
die Foochow Road, wo es allmählich chinesischer wurde, sah
zerlumpte Bauern, die Schubkarren schoben, brüllende Händler,
gestikulierende Wahrsager und Blumenmädchen, die sich um Kunden
zankten. Eine mit Pferden bespannte, europäische Kutsche rollte
vorbei und sorgte für Geschrei, da sie die Bude eines
Nudelverkäufers zum Einsturz brachte. Ein paar Münzen
wurden aus dem Fenster geworfen, Bettler stürzten sich darauf,
noch bevor der Nudelverkäufer etwas hatte ergattern können,
und die Kutsche verschwand. Sedanstühle waren auch in der
internationalen Siedlung in der Überzahl, schoben sich gemeinsam
mit den Jinrikschas durch das Getümmel. Aus einem Restaurant
drangen die hohen, schrillen Töne chinesischer Musik. Viktoria
schritt gemächlich dahin, wälzte Gedanken in ihrem Kopf.
Vor einem Schrein blieb sie kurz stehen und musterte die
weltentrückte Miene einer unbekannten Göttin, zu deren
Füßen Räucherstäbchen glommen. Eine Weile
starrte sie nur, sog in all dem Lärm und Getümmel Ruhe in
sich auf.
Plötzlich
wusste sie, was nun zu tun war. Es widerstrebte ihr, doch sah sie
keine andere Möglichkeit. Sie musste jede Chance nutzen, um
Jinzi zu helfen.
Den
Rest des Weges legte sie im Eilschritt zurück. Sie betrat das
Hotel, grüßte Bedienstete, die gerade den Speisesaal für
das Mittagessen herrichteten, und lief dann Richtung Küche, wo
sie erwartungsgemäß die energische Stimme von Rosie
McGregor vernahm. Viktoria ließ ein lautes >Zǎo’ān<
erklingen. Die Hausherrin drehte sich kurz um.
»Ich
brauche Ihre Hilfe, Mrs. McGregor«, erklärte Viktoria. Sie
wurde in eine Ecke gewunken.
»Machen
Kinder Probleme?«
Viktoria
schüttelte schnell den Kopf, um diesen Kindern eine Standpauke
zu ersparen.
»Es
gibt jemanden, den ich treffen muss«, sagte sie. »Eine
Frau. Eine Chinesin. Sie ist nicht immer in Shanghai, aber sie hat
einige … Besitztümer hier. Ihr Name ist Shen Akeu.«
Rosie
McGregor hatte ein breites Gesicht mit entschlossenen Mundwinkeln.
Nun sackte ihr Kinn kurz herab und ihr Mund öffnete sich, als
sei sie ein Fisch, der an Land zu überleben suchte.
»Das
nicht gute Frau!«, rief sie. »Nicht gut, sie kennen.«
Viktoria
nahm erleichtert zur Kenntnis, dass die Hausherrin wusste, von wem
die Rede war.
»Ich
muss aber …«
»Junge
Mädchen müssen aufpassen in Shanghai«, fiel Rosie ihr
ins Wort. »Gefährliche Stadt. Frauen wie Shen Akeu
versprechen Geld und leichtes Leben, aber sie böse. Wir Sie für
Unterricht bezahlen, Miss Virchow, ich reden mit Ian.«
Sie
legte eine Hand auf Viktorias Schulter.
»Das
ist wirklich sehr nett«, bedankte Viktoria sich durchaus
gerührt. »Aber ich will bei Shen Akeu nichts verdienen,
ich brauche nur ihre Hilfe … um … um einem Freund zu
helfen.«
Der
Blick von Mrs. McGregor wurde immer fassungsloser.
»Das
keine Frau, die anständige Mädchen kennen sollen«,
entgegnete sie kategorisch. Kurz glaubte Viktoria, ihrer Mutter
gegenüberzustehen.
»Manchmal
muss man sich mit Leuten treffen, die man nicht wirklich treffen
will«, begann sie. »Bitte, Mrs. McGregor, ich muss
Kontakt zu dieser Shen Akeu herstellen. Wenn Sie mir nicht helfen
wollen, dann werde ich es anderweitig versuchen.«
Die
Hausherrin presste ihre Lippen wieder zu entschlossenen Strichen
zusammen.
»Ich
reden mit Ian«, wiederholte sie nach einer Weile. Obwohl sie
das Hotel mehr oder weniger selbständig leitete, schien es
dennoch Angelegenheiten zu geben, bei denen ihr Gemahl die
übergeordnete Instanz war. Viktoria entfernte sich mit ein paar
Dankesworten. Nun, da sie dieses Gespräch hinter sich gebracht
hatte, würden die Dinge auf die eine oder andere Art ihren Weg
nehmen.
******
Es
ging erstaunlich schnell. Ian McGregor stellte den Kontakt über
einige Landsmänner her, die, ebenfalls Seeleute, in
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