Das Geheimnis der Jaderinge: Roman (German Edition)
haben musste. Für eine
Weile sahen sie aus wie ein Liebespaar, das friedlich gemeinsam
eingeschlafen war. Dann regte sich etwas Leben. Emily hob den Kopf,
um Margaret fassungslos anzustarren. Von ihrer linken Schläfe
flossen rote Tropfen, ihr Mund öffnete sich und zeigte einen
dunklen Rachen.
Unter
Andrew begann sich eine Pfütze aus Blut zu formen, die langsam
wuchs. Er rührte sich nicht, obwohl Emily ihn nun heftig
schüttelte. Sein Kopf lag in einer unnatürlichen
Schräglage, schmiegte sich enger an seine Schulter, als
anatomisch möglich sein konnte.
Margaret
wollte herbeilaufen, um ihm zu helfen, denn sie begriff in diesem
Moment, dass sie diesen Sohn mehr liebte als jeden anderen Menschen
auf der Welt. Aber die Gegenstände in ihrem Blickfeld hatten
keine Stabilität mehr, sie fuhren wie ein Karussell um sie
herum. Margaret wurde klar, dass sie nicht in der Lage war, einen
weiteren Schritt zu tun, ohne dabei zu stürzen. Sie hörte
das Pfeifen nicht mehr und auch aus Emilys weit aufgerissenem Mund
drang kein Laut an ihr Ohr. Eine Glasglocke hatte sich über sie
gelegt, um alle Geräusche auszusperren. Sie sah, wie Tränen
über Emilys Gesicht rollten. Dann fiel sie plötzlich selbst
in einen tiefen, finsteren Abgrund.
******
»An
die ersten Wochen danach kann ich mich kaum erinnern«, erzählte
Margaret, die sich nun wieder zu Viktoria herumgedreht hatte.
»Manchmal erkannte ich die Menschen um mich herum, dann
schienen sie wieder Fremde. Die rechte Seite meines Körpers
gehorchte mir nicht mehr, ich war hilfloser als ein Wurm, denn der
vermag wenigstens vorwärtszukriechen. Wenn jemand mit mir
sprach, dann hörte ich Laute, die keinen Sinn ergaben.
Allmählich verstand ich sie wieder und in meinem Kopf entstanden
Worte, doch wollte ich sie jemandem mitteilen, kam nur das Brabbeln
eines kleinen Kindes aus meinem Mund. Es war so entwürdigend,
dass ich zunächst gar nicht mehr sprechen wollte. Der Arzt
ermahnte mich ständig, es dennoch zu versuchen, und tatsächlich
konnte ich irgendwann wieder einfache Sätze sagen. Mein Verstand
heilte, doch mein Körper ließ mich im Stich. An die
letzten Ereignisse vor dem Schlaganfall konnte ich mich lange nicht
erinnern, ich glaube, ein Teil meines Gehirns sperrte sie aus, weil
sie nicht zu ertragen waren. Nur ganz langsam setzten die Bruchstücke
sich in meinem Gedächtnis zusammen. Als ich wieder wusste, wie
Andrew gestorben war, da lebte er schon fast ein Jahr nicht mehr.
Seine Frau und sein Kind waren irgendwo in China verschwunden. Wir
hausten hier weiter unter einem Dach. Emily musste bleiben, obwohl
sie Robert endgültig zuwider war. Ich glaube, wir haben einander
alle nur noch aus Notwendigkeit ertragen.«
Margaret
schloss die Augen. Ihre Brust hob und senkte sich in mühsamen
Atemzügen. Viktoria hatte die Arme um ihre eigenen Schultern
geschlungen, denn sie zitterte vor Aufregung. Vermutlich sollte sie
jetzt besser gehen, die alte Dame war am Ende ihrer Kräfte.
»Soll
ich jemanden rufen, Mrs. Huntingdon?«, fragte sie, ratlos, ob
irgendeine Medizin helfen konnte. Margaret schüttelte schwach
den Kopf.
»Ich
will meinen Frieden«, flüsterte sie. »Aber es gibt
etwas, das Sie mitnehmen müssen. Gehen Sie zu meinem
Schreibtisch und öffnen Sie die unterste Schublade. Dort liegen
viele nutzlose Papiere herum, aber wenn Sie das Holz darunter
anheben, finden Sie ein Versteck, in dem ein einziges, wichtiges
Dokument aufbewahrt ist. Ganz so hilflos war ich nicht, ich konnte
ein paar Dinge vor Robert verbergen.«
Viktoria
gehorchte. Sie wühlte herum, zerschnitt sich einen Finger an dem
dünnen Holzbrett, doch schließlich zog sie ein
zusammengefaltetes Papier heraus. Sie eilte zum Fenster, um es im
Licht der Laternen zu entziffern. Eine Heiratsurkunde, unterzeichnet
von der krakeligen Schrift eines englischen Vikars, schwungvollen
Zügen, die den Namen Andrew Huntingdon wiedergaben, und
schließlich drei chinesischen Zeichen. Ihr Herzschlag
beschleunigte sich.
»Was
wurde aus Andrews Leichnam?«, sprach sie das letzte noch
ungelöste Rätsel aus. Margarets Augenlider flackerten.
»Er
liegt in den Tiefen des Huangpu. So viele Menschen starben damals,
einen Toten heimlich verschwinden zu lassen, das war nicht besonders
schwer. Robert erklärte mir, dass er nur einen Skandal hatte
verhindern wollen. In gewisser Hinsicht verstand ich ihn. Aber
vergeben konnte ich ihm
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