Das Geheimnis der Jaderinge: Roman (German Edition)
Frauen nicht Huren nennen!«, kam es nun erbarmungslos
von Andrew, dessen Stimme vor Zorn zitterte. Die kalte Verachtung in
diesen Worten machte endgültig klar, dass er keine zärtlichen
Gefühle mehr für seine Schwägerin hegen konnte. Emily
krümmte sich mit vor der Brust verschränkten Armen.
Margaret hätte ihren ältesten Sohn plötzlich ohrfeigen
können. Aber war sie selbst nachsichtiger in ihrem Urteil über
die stets klagende, selbstmitleidige Schwiegertochter gewesen?
»Es
tut mir leid, ich habe mich dir gegenüber schlecht benommen«,
redete Andrew etwas milder weiter. »Aber ich habe dich niemals
geliebt, Emily, und daran kann ich nichts ändern. Vergiss mich
bitte, es ist das Beste für dich.«
Zaghaft
streckte er die Hände aus, um Emily aufzurichten, doch sie wich
vor seiner Berührung zurück.
»Verschwinde!
Ich hasse dich!«
Mit
gerafftem Rock rannte sie die Stufen empor, vorbei an Margaret, deren
Gegenwart sie offenbar nicht wahrgenommen hatte. Andrew wandte sich
der Ausgangstür zu. Margaret atmete erleichtert auf, denn die
Szene war beendet, ohne irgendwelche Diener herbeigelockt zu haben.
Sie sah Emily hinterher und wartete darauf, die Schwiegertochter
wieder in ihrem Zimmer verschwinden zu sehen. Ihre letzte,
wutentbrannte Reaktion war endlich gesund, geradezu vernünftig
gewesen. Morgen würde sie offen mit ihrer Schwiegertochter reden
und ihr eine Rückkehr nach England vorschlagen, dies schien die
beste Lösung für alle Beteiligten. Doch Emily blieb auf der
letzten Stufe zum obersten Stockwerk stehen, legte ihre Hände
auf das Geländer und beugte sich vor. Ihre Augen waren trocken,
der Mund zu grimmiger Entschlossenheit verkrampft. Immer tiefer
lehnte sie sich, bis ihr Körper zu kippen drohte. Margarets Füße
gerieten in Bewegung, doch machte ein neuer, ungewohnt heftiger
Schwindelanfall es ihr unmöglich loszulaufen.
»Andrew!«,
schrie sie aus Leibeskräften ihrem entschwindenden Sohn
hinterher. Sie sah, wie er sich umdrehte und zu Emily hochblickte.
Dann raste er die Treppe hinauf.
Nach
all den Jahren in China war die Neigung der Asiaten, sich aus Kummer,
Stolz oder Loyalität umzubringen, Margaret immer noch
unbegreiflich geblieben. Es schien ihr dumm und unbeschreiblich
feige, das eigene Leben wegzuwerfen, denn mit der Zeit heilten die
tiefsten Wunden. Nun, da sie Emilys blasse, tapfer entschlossene
Miene sah, wurde ihr klar, dass zu diesem Schritt auch sehr viel Mut
gehörte.
»Lass
es«, wollte sie der Schwiegertochter zurufen. »Du
bekommst Geld, um in England leben zu können. Ich selbst regele
das alles.« Doch ihre Stimme war zu schwach, um Emily zu
erreichen, deren Körper zunehmend in die Schräglage geriet.
Bald schon würde das Gesetz der Schwerkraft ihn in die Tiefe
ziehen. Margarets Augen schlossen sich kurz, denn das Licht schnitt
wie ein Messer in ihren Schädel. Warum war das Pfeifen in ihren
Ohren auf einmal so schrecklich laut? Ihre Hände krallten sich
um den Türrahmen, da sie sonst nicht mehr hätte aufrecht
stehen können.
»Emily,
jetzt hör auf mit dem Unsinn!«, hörte sie Andrew
schreien. Ihre Augen öffneten sich, trotzten der grausamen
Helligkeit. Andrew hatte Emilys Hüften gepackt und zerrte sie
rückwärts. Zappelnd trat sie nach ihm, wurde aber trotzdem
wie ein Bündel hochgehoben.
»Lass
mich los, du Schwein, es geht dich nichts an, was ich tue!«,
kreischte sie aus Leibeskräften. Irgendwo erklang bereits
chinesisches Getuschel. Bald schon wäre das Treppenhaus voller
neugieriger Diener. Margaret befahl ihrem Körper Gehorsam, denn
ihre Autorität hatte im Haus bisher immer für Ordnung
gesorgt. Sie schaffte es tatsächlich, ein paar Schritte Richtung
Treppe zu tun, was sie erleichterte. So schlimm stand es noch nicht
um sie.
Im
oberen Stockwerk rangen Andrew und Emily stumm miteinander. Ihre
magere Schwiegertochter hatte ungeahnte Kräfte entwickelt, trat,
biss und kratzte wie eine Furie. Andrew wich manchmal zurück, um
dann wieder entschlossen zuzupacken.
Und
dann sah Margaret plötzlich zwei Körper fallen, nicht in
die tiefe Leere jenseits des Geländers sondern die Stufen der
Treppe entlang, polternd und lärmend. Glieder schlugen gegen
spitze Kanten, ließen Blutflecken zurück. Ein Stück
vor ihren Füßen kamen sie endlich zum Stillstand,
übereinander geworfen wie zwei Säcke. Emily lag auf Andrew,
was ihren Aufprall abgeschwächt
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