Das Geheimnis der Jaderinge: Roman (German Edition)
erkannte sie eine tiefe Falte zwischen seinen
Brauen. Der verbissene Zug um seinen Mund verhieß nichts Gutes.
Viktoria lächelte ihn unsicher an und staunte, als er ohne
Zögern einen Arm um ihre Schulter legte. Sie konnte nicht
erkennen, wie die Straßenhändler darauf reagierten, denn
sie hatte ihr Gesicht an seiner Schulter verborgen. Dann schob er sie
entschlossen Richtung Chinesenstadt. Sie hatten fast schon das bunt
geschmückte Tor durchschritten, als er endlich zu reden begann.
»Sie
sehnte sich tatsächlich danach, mich zu sehen, all die Jahre
lang. Auch meine Mutter hätte sie gern kennengelernt. Ich glaube
sogar, die beiden hätten sich ganz gut verstanden.«
Viktoria
nickte. Das war auch ihr Eindruck gewesen. Jinzi drückte sie
weiter an sich, als brauchte er eine Stütze, um weiter seinen
Weg zu finden. Sie betraten gemeinsam Shen Akeus Haus und stiegen
wieder die Stufen hoch. Von den anwesenden Mädchen wurden sie
kaum noch beachtet, dennoch war Viktoria unwohl zumute, denn dies war
eine Welt, zu der sie selbst niemals gehören würde. Sie
wollte Jinzi in ihrem Leben, daher war es an der Zeit, wieder zu den
McGregors zu ziehen oder an einen anderen, neutralen Ort.
Jinzi
schob sie schweigend in das Zimmer und ließ die Tür hinter
ihnen zufallen. Dewei war nicht da, vermutlich tratschte er wieder
mit ein paar Dienern. Viktoria setzte sich steif auf den Kang.
»Sie
möchte, dass ich das Erbe meines Vaters bekomme, nur einen Teil
des Vermögens«, erzählte er mit gesenktem Blick,
während er sich an ihrer Seite niederließ. »Ich bin
bereit, das anzunehmen, weil es ihr Wunsch ist. Sie wird bald
sterben, Vi Ki. Ich habe diese Frau so lange verflucht, wie auch den
Rest ihrer Familie. Und nun, da ich sie endlich wirklich kennenlerne,
da steht sie schon mit einem Fuß im Grab.«
Viktoria
legte zaghaft eine Hand auf seine verkrampften Schultern.
»Es
ist doch besser, als wenn du sie niemals getroffen hättest. So
kannst du Frieden schließen mit deinem Vater und seinen
Angehörigen. Keiner von ihnen wollte deine Eltern trennen, es
war ein Unglück, nichts weiter.«
Nach
langem Schweigen blickte Jinzi endlich auf. Er rieb seine Augen, die
feucht geworden waren. Dann musterte er Viktoria nachdenklich.
»Ich
weiß, du willst, dass wir gemeinsam von hier weggehen. Du
kannst es kaum erwarten«, begann er. »Und wir gehen fort,
das habe ich ebenso beschlossen. Aber Shen Akeu wünscht mich
heute zu sehen.«
Viktoria
wurde kalt. Ein Laut des Protestes entwich ihr, doch Jinzi legte eine
beruhigende Hand auf ihren Arm.
»Ich
werde es in Ordnung bringen und meinen Abschied von ihr nehmen«,
versprach er. »Warte auf mich. Spätestens nach dem
Abendessen bin ich wieder hier. Morgen verlassen wir dieses Haus und
suchen uns eine neue Bleibe.«
Obwohl
Viktorias Magen sich nervös verkrampfte, widersprach sie nicht,
denn Jinzis ernster Tonfall gab ihr ein Gefühl von Sicherheit.
Sie sah schweigend zu, wie er sich wusch und frische Kleidung
anlegte, die bereits im Zimmer auf ihn gewartet hatte. Dann wurde er
von einem Diener abgeholt. Viktoria schenkte sich eine Tasse Tee ein,
an der sie langsam nippte. Morgen würde ihr gemeinsames Leben
mit Jinzi beginnen, sagte sie sich wieder und wieder. Diese
Vorstellung setzte neben rasender Freude eine Flut an Gedanken frei,
sie begann zu planen und vergaß ihr Unbehagen. Kurz darauf kam
Dewei hereingestürmt, stellte eine Schüssel mit duftenden
Teigtaschen auf dem Tisch ab und überschüttete Viktoria mit
Fragen, was Jinzis Besuch bei Margaret betraf. Sie fasste knapp die
wesentlichen Neuigkeiten zusammen. Er lauschte mit weit aufgerissenen
Augen, kletterte dann zu ihr auf den Kang, wo sie gemeinsam aßen.
»Es
ist schwierig, derart fremde Menschen als Teil der eigenen Familie
anzunehmen«, meinte er an Viktoria geschmiegt. »Aber hat
man sich erst einmal an den ungewohnten Anblick gewöhnt, freut
man sich, nicht allein zu sein.«
Viktoria
begann zu ahnen, worauf er anspielte.
»Für
mich bist du auch mein erstes Familienmitglied in China, obwohl du
mir zunächst sehr fremd warst«, erwiderte sie. »Aber
denkst du nicht manchmal an deine wirkliche Familie … an deine
Eltern, meine ich. Und an deine Schwester?«
Zum
ersten Mal wagte sie, ihm diese Frage zu stellen. Dewei schien ihr in
den letzten Monaten erwachsener und gefestigter
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