Das Geheimnis der Jaderinge: Roman (German Edition)
legte sie eine Hand auf seinen Rücken. Diesmal
stieß er sie nicht fort, sondern schmiegte sich in ihre
Umarmung.
»Es
ist furchtbar traurig, was deinen Eltern widerfahren ist«,
redete Viktoria weiter. »Dein Vater hatte Fehler gemacht, aber
er hatte es nicht verdient, deshalb zu sterben.«
Jinzi
erwiderte nichts, sondern drückte sie nur weiter an sich.
Viktoria streichelte die Stoppeln auf seinem Schädel. Wäre
Andrew Huntingdon nicht eine Treppe hinuntergestürzt, dann hätte
sein Sohn ein sicheres Leben bei einem klugen Vater führen
können, anstatt als Gaukler durch die Lande zu ziehen, oft genug
mit knurrendem Magen. Auch Yazi wäre geliebt und versorgt
gewesen. Der Bücherwurm Chuntian hätte eine Schule besuchen
dürfen, anstatt einem Mann, der sie nicht schätzte, als
mögliche Zuchtstute zu dienen. Irgendeine Entschädigung
hatten sie alle verdient.
»Bitte
Jinzi«, flüsterte sie eindringlich. »Wirf dein Erbe
nicht einfach fort. Du wärest viel freier mit ein bisschen
Vermögen. Du könntest dein eigenes Theater eröffnen
oder … oder ein Hotel wie die McGregors. Wir hätten die
Möglichkeit, uns zusammen ein Leben aufzubauen.«
Die
Erkenntnis war plötzlich gekommen und sogleich ausgesprochen
worden. Jinzi entzog sich ihrer Umarmung, legte aber beide Hände
auf ihre Wangen, um ihr eindringlich ins Gesicht zu blicken.
»Ist
es denn das, was du dir wünschst?«, fragte er leise. »Ein
Leben mit mir?«
Viktoria
nickte, ohne einen Augenblick zu zögern. Tief in ihrem Inneren
hatte sie es schon lange gewusst.
Er
ließ seine Hände sinken und rieb sich die Schläfen.
»Nun
gut, ich werde darüber nachdenken. Morgen rede ich mit meiner
Nǎinai. Wenn sie mir tatsächlich etwas vermachen will, dann
nehme ich es an. Einen Habenichts hast du nicht verdient.«
Er
hob Viktoria hoch und trug sie auf den Kang. Sie schlang ihre Arme um
seine Schultern. Nun, da alles gesagt war, was es zwischen ihnen zu
sagen gab, hatte sie das Gefühl, endlich ihren Platz im Leben
gefunden zu haben.
******
Am
nächsten Morgen begleitete sie Jinzi wieder zum Haus der
Huntingdons und sorgte dafür, dass Shikai ihn hereinließ.
Selbst wollte sie Robert Huntingdons Heim nicht mehr betreten,
wartete daher auf der Straße und besorgte sich bei einem
Händler eine Morgensuppe. Um sie herum zog das übliche
Durcheinander aus europäischen und asiatischen Fahrzeugen
vorbei, sie hörte chinesisches Gebrüll, gelegentlich
unterbrochen von lauten englischen Flüchen. Langsam kämpfte
Viktoria sich zum Bund vor, wurde kurz angerempelt und stolperte
gegen einen Bambuskäfig, in dem Grillen zum Verkauf angeboten
wurden. Sie murmelte rasch eine Entschuldigung, half einem kleinen
Chinesen mit elegant geschwungenem Schnurrbart, seine Ware wieder ins
Gleichgewicht zu bringen, und wurde von einem unverständlichen,
aber durchaus freundlich klingenden Wortschwall überschüttet.
Der Mann stellte sich grinsend auf die Zehenspitzen und blickte
übertrieben bemüht zu ihr hoch. Viktoria ging lachend
weiter. Trotz all ihrer anfänglichen Befürchtungen erwiesen
die Menschen Chinas sich meist als sehr umgänglich, wenn man
ihnen ebenso begegnete. Sie erreichte nun die breite, von großen,
europäischen Gebäuden geschmückte Uferstraße und
blickte auf die Masten und Segel der Schiffe, die den Blick auf den
Horizont versperrten. Eine Hafenstadt war ihre erste Heimat gewesen.
Nun sah sie eine völlig andere, weitaus exotischere als ihr
zukünftiges Zuhause an, denn trotz allem Schmutz, aller Armut
und Härte, die das Leben in Shanghai bestimmten, fühlte sie
sich nun selbst als Teil dieser bunt zusammengewürfelten
Mischung zahlreicher Nationalitäten und gesellschaftlicher
Schichten. Ihr wurde klar, dass sie diese Stadt nicht mehr verlassen
wollte.
Viktoria
schlenderte eine Weile die Uferpromenade auf und ab, dann bog sie
wieder zum Haus der Huntingdons ab, um in sicherer Entfernung auf
Jinzi zu warten. Innere Unruhe nagte an ihr, machte es unmöglich,
still zu bleiben, sodass sie immer weitere Runden drehte, die
allmählich ein Grinsen auf die Gesichter der herumstehenden
Straßenhändler trieben. Dann endlich sah sie ihn durch den
Seiteneingang hinaustreten und musste sich zusammenreißen, um
ihm nicht erneut vor allen Umstehenden in die Arme zu fallen. Er
eilte sehr zielstrebig auf sie zu, doch war sein Blick gesenkt, und
als er näher kam,
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