Das Geheimnis der Jaderinge: Roman (German Edition)
geworden zu sein. Es
hatte keinen Sinn, die Augen vor der eigenen Vergangenheit zu
verschließen. Sein Gesicht, das sich Viktoria nun zuwandte, war
ernst, aber frei von Schmerz und Tränen.
»Meine
ersten Eltern sind tot. Sie haben nicht einmal ein Grab, an dem ich
sie ehren könnte, denn sie wurden wie Bettler in einer Grube
verscharrt. Vielleicht treffe ich sie im nächsten Leben wieder«,
sagte er völlig gefasst. »Mein Onkel gab mich fort, also
warum sollte ich ihn vermissen? Meiner Schwester wünsche ich,
dass sie in einem Haus wie diesem leben kann. Sie war hübsch,
deshalb kam sie ganz sicher in ein Freudenhaus. Den Mädchen hier
geht es nicht schlecht, sie müssen nicht jeden Mann annehmen und
meistens scheinen sie fröhlich.«
Viktoria
fuhr ihm sanft mit der Hand durchs Haar. Dass seine Schwester eine
Herrin wie Shen Akeu gefunden hatte, schien unwahrscheinlich, aber
sie wollte seine Hoffnungen nicht zerstören. Die Art, wie er
sein Schicksal annahm, beeindruckte sie.
»Willst
du eines Tages nach deiner Schwester suchen?«, fragte sie
vorsichtig. Eine kleine Falte erschien zwischen Deweis Brauen.
»Ich
weiß nicht, wie ich sie jemals finden sollte. Die Aussichten
sind sehr gering. Vielleicht, wenn ich ein reicher Mann bin.«
Er
zog die Schultern zurück.
»Ich
kenne eure Welt und die unsere«, fuhr er fort. »Aus mir
könnte ein guter Komprador werden, der zwischen beiden
vermittelt. Und eines Tages möchte ich ein Taipan sein, mit
einem eigenen Handelshaus.«
Viktoria
presste ihre Hand vor den Mund, um ein Kichern zu unterdrücken.
Was für ein Aufschneider, dachte sie. Doch wollte sie ihn nicht
daran erinnern, dass die Taipans in Shanghai allesamt aus dem Westen
kamen.
»Die
Zeiten werden sich ändern«, erklärte er auch schon.
»Sie ändern sich ständig, seit ihr Lao Wai hier
angekommen seid.«
Viktoria
nahm zur Kenntnis, dass er vielleicht mehr begriffen hatte als sie
selbst.
»Ich
habe jetzt eine neue Familie«, fuhr er fort. »Du bist wie
meine Mutter gewesen und wenn du alt bist, dann sorge ich für
dich. Und auch für ihn.«
Viktoria
musste nicht fragen, wen er meinte. Sie legte ihren Arm um seine
Schultern. Alles schien plötzlich so klar, so einfach.
»Wir
drei gehen morgen von hier fort«, erzählte sie. »Zunächst
zu den McGregors. Dann sehen wir weiter.«
Dewei
kommentierte die Aussage mit einem knappen Nicken. Er schien nicht
überrascht. Viktoria empfand eine unerklärliche Freude
darüber, dass er diese Entwicklung der Dinge vorausgesehen
hatte. Vielleicht hatte sie selbst durch endlose Bedenken alles
verkompliziert.
»Wir
bummeln jetzt draußen ein bisschen herum«, schlug sie
Dewei vor und stand schwungvoll auf. In ihrem Beutel waren nur noch
ein paar einsame Münzen, auf die es nun nicht mehr ankam.
»Hier
gibt es sicher einen Markt in der Nähe. Wir vertreten uns die
Beine, und sobald es dämmert, ist Jinzi wieder hier. Dann
beginnt ein neues Leben für uns alle.«
Sie
ergriff die dicke, chinesische Jacke und schlüpfte in die mit
Fell gefütterten Stiefel, beides Gaben von Shen Akeu. Dewei
folgte ohne Zögern. Hand in Hand liefen sie los. Viktoria fühlte
sich so leicht und beschwingt als schwebe sie ein paar Meter über
dem gefrorenen Schmutz der Chinesenstadt. Sie spazierten an dem
Teehaus vorbei und fanden sich bald in einer von Kaufläden
eingesäumten Straße wieder, in deren Enge man kaum
vorwärts kam. Das ständige Brüllen störte
Viktoria nicht mehr, es war Teil einer Welt, die sie ins Herz
geschlossen hatte. Sie entdeckte ein paar baumelnde Ohrringe mit
Glassteinen, deren tiefroter Farbton ihr gefiel. Dank Deweis eisernem
Verhandlungsgeschick reichten ihre letzten Münzen schließlich
aus, um sie zu erwerben und sogar zwei Schalen Reis zu bekommen, als
sich nach ein paar Stunden wieder der Hunger bemerkbar machte.
Viktoria spürte die gewohnten, neugierigen Blicke in ihrem
Rücken. In dem europäischen Kleid, der chinesischen Jacke
und mit den exotischen Ohrringen unbekannter Herkunft zog sie wohl
noch mehr Aufmerksamkeit auf sich als bisher. Die Vorstellung
amüsierte sie. Das Leben war plötzlich so einfach geworden!
Sie
bummelten ausgiebig in der Chinesenstadt herum. Erst als es zu
dämmern begann, riet Dewei zur Rückkehr, denn im Schutz der
Dunkelheit würden noch mehr zwielichtige Gestalten aus
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