Das Geheimnis der Jaderinge: Roman (German Edition)
ihren
Löchern kriechen. Es dauerte eine Weile, bis sie Shen Akeus Haus
wiedergefunden hatten, da Viktoria einen halbwüchsigen Jungen
nicht nach einem Bordell fragen lassen wollte. Die Temperaturen waren
wieder gesunken und neuer Schneefall hatte eingesetzt. Als sie
endlich durchs Eingangstor traten, waren Viktorias Hände vor
Kälte steif geworden. Das Bordell war bereits in Betrieb, Männer
tranken gemeinsam mit den Mädchen Reiswein, eine stark
geschminkte Frau spielte auf einem Saiteninstrument und sang dabei
mit flatternder, schriller Stimme. Ein bezopfter Herr in prächtiger
Robe zupfte an Viktorias Ärmel, um auf den Stuhl an seiner Seite
zu weisen. Gelächter erklang. Sie durchbohrte ihn mit einem
wütenden Blick, der nur weiteres Kichern auslöste.
Entschlossen zerrte sie Dewei die Treppe hoch. Je eher sie von hier
fortkamen, desto besser. Vielleicht wartete Jinzi schon.
Sie
öffnete die Tür zu dem vertrauten Zimmer. Gähnende
Leere schlug ihr entgegen. Auf einmal breitete sich in ihrem Inneren
Kälte aus, obwohl im Kamin ein Feuer prasselte, aber sie mahnte
sich, geduldig zu bleiben. Jinzi brauchte sicher einige Zeit, um Shen
Akeu alles zu erklären. Indessen sah sie sich nach ihren
Habseligkeiten um. Außer dem Winterkleid und ihrem schon
verschlissenen Paletot hatte sie nichts mitgebracht. Für die
Rückkehr zu den McGregors musste es reichen, denn sie wollte
keine Besitztümer von Shen Akeu entwenden. Ihr Koffer wartete
weiter im Hotel, hatte Dewei versichert, sodass sie zunächst
einmal mit dem Nötigsten versorgt wäre. Jinzi schien kaum
etwas zu besitzen, aber sie hoffte, dass die McGregors ihm ein paar
Kleidungsstücke überlassen würden, wenn sie höflich
darum bat. Sie versuchte, sich ihn in einem europäischen Frack
vorzustellen. Vielleicht würde das Erbe seines Vaters in seinen
Gesichtszügen dann deutlicher hervortreten. Bei Begegnungen mit
den Huntingdons und deren Anwälten wäre es auf jeden Fall
von Vorteil, wenn er weniger chinesisch aussah.
Die
Gedanken drehten sich in ihrem Kopf, während sie geschäftig
herumlief, um die Wellen kribbelnder Unruhe in ihrem Inneren zu
glätten. Dann spürte sie plötzlich Deweis besorgten
Blick auf sich ruhen und kam zum Stillstand.
»Hast
du irgendein Buch mitgebracht, aus dem wir lesen könnten?«,
fragte er. Sie schüttelte den Kopf. Dickens oder eine der
Brontë-Schwestern wären nun eine erlösende Abwechslung
gewesen, denn sie konnte nicht stundenlang Runden durch das kleine
Zimmer drehen. Wo blieb Jinzi nur so lange? Ihre Ungeduld begann sich
allmählich mit Zorn zu mischen. Dahinter ahnte sie ein weitaus
quälenderes Gefühl von Schmerz, das sich ihrer bald
bemächtigen würde.
»Ich
kann dir ein chinesisches Würfelspiel beibringen, wenn du
möchtest«, schlug Dewei vor. Sie stieß einen Seufzer
aus.
»Ich
glaube, im Moment kann ich mich darauf nicht konzentrieren«,
gestand sie. »Kannst du nicht nachfragen, wie … wie
lange Jinzi vermutlich noch bei der Hausherrin bleiben wird?«
Er
erhob sich nach kurzem Zögern und eilte hinaus. Viktoria nagte
an ihren Fingernägeln, eine schlechte Angewohnheit, die
Gouvernanten ihr vor Jahren bereits ausgetrieben hatten. Doch wie
weit lag die Zeit der Gouvernanten zurück!
Eine
Ewigkeit verging, dann tauchte Dewei endlich wieder auf. Mit
gesenktem Blick schlich er zu Viktoria, die erwartungsvoll auf dem
Kang hockte, und schmiegte seinen Kopf an ihre Schulter.
»Die
Diener gehen davon aus, dass Jinzi die Nacht mit der Hausherrin
verbringt!«, flüsterte er. Viktoria schoss in die Höhe.
Rasender Schmerz durchfuhr ihren Körper, zerschnitt ihn in
winzige Einzelteile.
»Unsinn!«,
rief sie laut, obwohl die Diener sicher kein Englisch verstanden. »Er
kommt bald wieder, das hat er gesagt. Bring mir etwas von diesem
Reisschnaps, der hier überall getrunken wird. Dann legen wir uns
ins Bett und warten auf Jinzi. Er ist sicher gleich hier.«
Dewei
gehorchte, obwohl er dabei nicht glücklich aussah. Er ließ
auch einen kleinen Bottich mit Wasser hereinbringen, sodass sie sich
beide waschen konnten. Viktoria leerte einen Becher des bitter
schmeckenden Getränks, dann noch schnell einen weiteren, bis
wohlige Entspannung ihr ein rasches Einschlafen versprach. Sie
schüttete das warme Wasser in ihr Gesicht und knöpfte ihr
Kleid auf. Dewei wartete mit abgewandtem Gesicht, bis sie bettfertig
war, dann legte er sich an
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