Das Geheimnis der Jaderinge: Roman (German Edition)
zusammen.
»Deine
Leute!«, rief er. »Ich dachte, dass wären jetzt
Jinzi und ich.«
Viktoria
atmete tief durch. Der Vorwurf hatte sie wie ein Messer in die Brust
getroffen.
»Das
dachte ich auch, aber es geht einfach nicht«, flüsterte
sie mit abgewandtem Blick, denn ihre Augen quollen wieder über.
»Ich gehe erst einmal in die internationale Siedlung, Shanghai
werde ich wohl vorerst nicht verlassen. Du kannst mich begleiten,
wenn du möchtest. Oder bei Jinzi bleiben, ich weiß, er hat
dich gern.«
Sie
stieg betont leise die Stufen hinab. Shen Akeu stand gern früh
auf, und sie wollte ihr keinesfalls begegnen. Erst als sie bereits in
dem Eingangsraum des Bordells stand, wo umgekippte Stühle,
herumliegende Kleidung und Essensreste auf dem Boden den Eindruck
erweckten, ein Orkan habe durch das Haus gefegt, hörte sie das
Trappeln von Deweis Schritten hinter sich. Sobald seine Hand wieder
fest in der ihren ruhte, wurde ihr leichter ums Herz.
Sie
trat auf die Straße und schlug den Weg zur internationalen
Siedlung ein. Ideen und Pläne wirbelten in ihrem Kopf herum,
lenkten wenigstens für einen Moment von aller Schwermut ab. Sie
erinnerte sich an Marjorie Frazers kluge, ausgeglichene Miene. Würde
sie selbst jemals lernen, mit dem zufrieden zu sein, was das
Schicksal ihr gönnte? Die Hoffnung, einen Menschen gefunden zu
haben, mit dem sie ihr Leben teilen konnte, hatte sich als Illusion
erwiesen. Sie trieb weiter allein dahin, suchte ein Ziel, eine
Aufgabe.
Marjorie
hatte ihr damals einen Namen aufgeschrieben. Eine Frau, die sich für
Chinesinnen einsetzte, deren Rechtlosigkeit und die Prostitution
bekämpfen wollte. Viktoria begann zu grübeln, wo der Zettel
sich wohl befinden konnte. Irgendwo in ihrem Koffer musste er
stecken. Sie würde nach ihm suchen, wenn sie wieder im Hotel
war.
10. Kapitel
»Herzlich
willkommen im Jahr des Schweins, 1887!«, rief Viktoria Anette
Sassoon zu, als die elegante Gestalt durch die Tür des
Kaffeehauses trat. Monsieur Malbert, der Besitzer, neigte ebenfalls
grüßend den Kopf, denn diese Dame gehörte zu seinen
wohlhabendsten Stammgästen.
»Et
bien, Nathan und ich haben uns die chinesischen Feiern angesehen«,
meinte Anette, als sie sich mit rauschenden Röcken niederließ.
»Wir machen das regelmäßig, um uns an den Tag zu
erinnern, da unser gemeinsames Leben begann.«
Ein
junger Chinese kam sogleich herbeigeeilt, um die Bestellung
aufzunehmen. Bald schon stieg der Duft frischen Kaffees in Viktorias
Nase. Sie schloss die Augen, um ihn einzuatmen. Nach fünf Jahren
in Asien war sie immer noch nicht bereit, auf dieses Getränk zu
verzichten, und nirgends schmeckte es so köstlich wie bei
Monsieur Malbert.
»Dein
Kind wird liebevoll, einfühlsam, aber auch sehr eifersüchtig
sein, wenn es in diesem Jahr geboren wird«, erzählte sie
Anette, die nachsichtig lächelte und über ihren bereits
leicht gewölbten Bauch strich.
»Amelie,
die im Jahr des Affen geboren ist, hat tatsächlich eine Vorliebe
für Bananen, meint die Amah«, erzählte sie kichernd.
»Ich hoffe, dass sie dann mit der Zeit auch den Charme
entwickelt, den Leute dieses Tierkreiszeichens laut den Chinesen
haben sollen.«
Sie
nippte an ihrem Kaffee, und ihre dunklen Augen musterten Viktoria
aufmerksam über den Rand der Tasse.
»Und
hat Mr. O’Neill schon mit dir gesprochen? Er ist Nathans bester
Geschäftspartner, ein Mann mit hervorragenden Perspektiven«,
fragte sie so beiläufig wie möglich, obwohl Neugier in den
schönen, französischen Augen blitzte.
Viktoria
unterdrückte einen Seufzer. Anette hatte es sich in den letzten
Jahren zur Lebensaufgabe gemacht, das seltsame deutsche Fräulein
unter die Haube zu bringen. Die Aussichten standen nicht schlecht,
denn über die Gerüchte, die Joseph Andrews verbreitet
hatte, war Gras gewachsen. Der Engländer war längst wieder
in seiner Heimat, wo die herzensgute Maud vielleicht böse
Überraschungen erleben durfte. Viktoria erfüllte ehrbare
Aufgaben, erteilte Privatunterricht für Kinder und half bei den
Reformprojekten der engagierten Mrs. Aberson mit. Zwar konnte sie
keine Mitgift vorweisen, doch glich der Mangel an heiratsfähigen
europäischen Frauen in Shanghai diesen Makel aus. Jack O’Neill
hatte seinen Antrag sehr sachlich vorgetragen und sie erwartungsvoll
angesehen. Mit einer Ablehnung seines Angebots hatte er wohl
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