Das Geheimnis der Jaderinge: Roman (German Edition)
keinen
Augenblick gerechnet, denn er war eine gute Partie.
»Er
hat mit mir gesprochen und wir wurden uns einig, dass eine Ehe
zwischen uns keine gute Idee wäre«, erzählte
Viktoria, um die Dinge sogleich klarzustellen.
Anettes
Gesicht verzog sich. Sie beugte sich leicht vor.
»Vicki,
du wirst nicht ewig jung bleiben. Mit jedem Lebensjahr sinken die
Aussichten auf eine gute Ehe. Es kommen immer mehr mittellose junge
Frauen nach Shanghai, allmählich wird es zu einem beliebten
Aufenthaltsort für Abenteurer und gestrandete Existenzen aus
aller Welt. Willst du eines Tages zu ihnen gehören?«
Viktoria
konnte ihr Grinsen nicht ganz unterdrücken. Anette verwandelte
sich zunehmend in eine ehrbare Matrone, begann ihrer Mutter ähnlicher
zu werden, als sie selbst je zugegeben hätte.
»Weißt
du, was ich an England so mag?«, fragte Viktoria, ohne
ernsthaft eine Antwort zu erwarten. »Seine unerschütterlichen
alten Jungfern. Jane Austen zum Beispiel. Oder nimm einmal diese
Isabella Bird, die hat zig Heiratsanträge in den Wind geschlagen
und ist stattdessen durch Asien gereist.«
Anette
schüttelte nachsichtig den Kopf und rührte noch einmal den
Kaffee um.
»Nun,
wie du meinst«, sagte sie gleichmütig. »Dein
chinesischer Junge macht sich übrigens sehr gut. Nathan meint,
er hat eine große Zukunft vor sich.«
Wieder
musste Viktoria grinsen. Für Anette waren Nathans Urteile immer
noch ein göttliches Orakel. Dennoch empfand sie Stolz, dass
Dewei die Erwartungen des erfolgreichen Geschäftsmannes
erfüllte. Er besuchte seit drei Jahren eine Missionsschule und
hatte selbst den Wunsch geäußert, im Kontor von Nathan
Sassoon aushelfen zu dürfen. Er arbeitete von morgens bis
abends, hatte einen guten Kopf für Zahlen und brannte vor
Ehrgeiz. All dies war sein eigener Verdienst, doch wäre er nicht
vor fünf Jahren neben Viktoria im Straßendreck gelandet,
hätte seine Zukunft weitaus düsterer ausgesehen. Durch ihre
Einmischung in sein Leben hatte sie ihm den Weg geebnet. Seine Pläne,
eines Tages ein großes Haus in der Foochow Road zu besitzen,
belächelte sie schon lange nicht mehr, denn sie begannen
glaubwürdig zu klingen. Sie musste zugeben, dass diese
Vorstellung sie beruhigte. Dewei konnte sie davor bewahren, als eine
in Shanghai gestrandete, mittellose und völlig vereinsamte
Existenz zu enden.
»Ich
muss jetzt leider aufbrechen«, erklärte Anette, die ihren
Kaffee ausgetrunken hatte. »Meine Schwiegermutter wartet auf
mich. Wir treffen uns manchmal, auch wenn Nathans Vater nichts davon
wissen darf.«
Mit
einem leisen Seufzer winkte sie den Kellner herbei. Viktoria bestand
wie immer darauf, selbst zu zahlen, denn sie wollte nicht als
Almosenempfängerin dastehen, auch wenn diese Tasse Kaffee sie
mehr kostete als drei chinesische Mahlzeiten. Vor dem Kaffeehaus
umarmten sie sich kurz, dann bestieg Anette eine Jinrikscha und
Viktoria spazierte zu Fuß in den angloamerikanischen Teil der
internationalen Siedlung. Das nächste Treffen würde in
einer Woche stattfinden, wie immer am Freitagnachmittag.
Viktoria
schlenderte geruhsam den Bund entlang. Mrs. Aberson erwartete sie
noch zum Tee, um die weiteren Strategien im Kampf gegen Elend und
Laster zu besprechen und Berichte an ihre Förderinnen in Amerika
zu verfassen. Sie hatte ein Waisenhaus in der Nähe der
Rennstrecken eröffnet und außerdem eine Einrichtung für
junge Chinesinnen, die der Prostitution entfliehen wollten. Zunächst
war Viktoria höchst skeptisch gewesen, denn was verstand eine
eisern protestantische Witwe, die selbst in der höchsten
Sommerhitze nicht auf hochgeschlossene schwarze Kleider verzichten
wollte, von der Welt einer Shen Akeu mit ihren Fallstricken, aber
auch der Macht, die sie manchen Frauen schenken konnte? Dennoch
gelang es Mrs. Aberson, von dem Rat der internationalen Siedlung die
Einrichtung der rettenden Tür bewilligt zu bekommen. Jede Frau,
die es schaffte, über die Schwelle ihres Büros zu gelangen,
war vor der Verfolgung von Zuhältern, Bordellbesitzern und
Menschenhändlern geschützt. Drei Monate lang war das
Angebot ungenutzt geblieben, obwohl Viktoria Dewei, Rosie McGregor
und auch Shikai ermutigt hatte, das Gerücht zu verbreiten. Dann,
mitten in der glühenden Sommerhitze des Jahres 1885, als
Viktoria allein in dem kleinen Raum Papiere sortierte, hatte sie auf
einmal ein lautes Hämmern an der Eingangstür
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