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Das Geheimnis der Jaderinge: Roman (German Edition)

Das Geheimnis der Jaderinge: Roman (German Edition)

Titel: Das Geheimnis der Jaderinge: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tereza Vanek
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Anette braucht dringend eine Vertraute.«

5. Kapitel

         Ein
zweirädriges Gefährt namens Jinrikscha brachte Viktoria zum
Haus der Desmoulins, das in einer Seitenstraße der Rue du
Consulat, ein Stück südlich eben jenes Konsulats stand. Es
war Viktorias erster Ausflug in die französische Konzession, die
sich nicht wesentlich von der internationalen Siedlung unterschied.
Doch lag sie näher an dem chinesischen Stadtteil, wo der
westliche Einfluss angeblich kaum zu spüren war. Viktoria hatte
von Emily gehört, dass es lebensgefährlich wäre,
derart unzivilisiertes Gelände zu betreten. Neugierig musterte
sie die Umrisse der Mauer, die diesen verbotenen Stadtteil
abschirmte, und rätselte, was sich dahinter verbarg, während
die Jinrikscha zum Stehen kam. Ein einziger Mann, ein Diener der
Huntingdons, hatte sie gezogen, denn Emily wollte sich nicht länger
auf unbekannte Chinesen verlassen müssen, wenn sie irgendwo
hinfahren musste, und hatte daher auf die Anschaffung einer eigenen
Jinrikscha bestanden. Viktoria war etwas unwohl dabei gewesen, dass
ein Mensch statt eines Pferdes ziehend vor ihr herlief, doch der
kleine, breitschultrige Mann wirkte nicht sonderlich erschöpft.
Im Gegensatz zu den meisten Jinrikschamännern, die ihre Dienste
in der Stadt anboten, war er durchaus kräftig und wohlgenährt.
Man musste den Huntingdons zugestehen, dass sie ihre Bediensteten
wohl anständig versorgten.
         »Ich
bin in einer Stunde wieder da«, meinte sie zu ihm und fragte
sich, ob er ohne Uhr die Zeit würde erkennen können. Er
nickte.
         »Danke
für den Transport«, fügte Viktoria unsicher hinzu. Er
verzog keine Miene. Schließlich griff sie in ihren Beutel, um
ihm einen Tael zu überreichen. Margaret hatte ihr diese
chinesische Silbermünze als Kuriosität geschenkt. Mit
englischem oder amerikanischem Geld, das in der internationalen
Siedlung verwendet wurde, konnte der Chinese vielleicht nichts
anfangen. Auch asiatische Gesichter vermochten offenbar mehr
auszudrücken als undurchdringliche Glätte, denn nun sah sie
zum ersten Mal ein chinesisches Lächeln, das lebendig schien und
auch die Augen zum Leuchten brachte.
         »Danke.
Ich wünsche Missee langes, erfolgreiches Leben.«
         »Tja,
das hätte ich gern. Wie heißt du eigentlich?«
         »Shikai.«
         Er
verneigte sich, ließ die Münze in seinem Kittel
verschwinden und wandte sich um. Viktoria sah ihm hinterher, als er
durch ein bunt verziertes Tor verschwand, das in die Chinesenstadt
führte. Auf einmal überkam sie der unsinnige Wunsch, ihm
hinterherzulaufen und in diese verborgene Welt einzudringen.

    ******

         »Guten
Morgen, Fräulein Virchow. Wie geht es Ihnen?«, sprach
Anette ihren ersten fehlerfreien deutschen Satz.
         »Danke,
mir geht es gut. Und Ihnen?«, erwiderte Viktoria langsam.
Sprachunterricht war anstrengend und zudem langweilig. Wie hatte
Charlotte Brontë das nur ausgehalten?
         »Mir
geht es auch gut. Vielen Dank.«
         Anette
musterte ihre Lehrerin unsicher.
         »Das
war schon sehr gut. Sie haben große Fortschritte gemacht«,
versicherte Viktoria pflichtbewusst auf Französisch, um endlich
mit normaler Geschwindigkeit reden zu können. Anettes
Wissensdurst wurde von einem schwerfälligen Verstand behindert.
Als ihre Schülerin verlegen zu lächeln begann, schämte
Viktoria sich der bösen Gedanken.
         »Finden
Sie wirklich? Meine Mutter hält mich für begriffsstutzig,
auch wenn sie es nie offen sagt.«
         Viktoria
seufzte innerlich. Warum konnte eine zarte, kluge Fee sich nicht
damit abfinden, dass ihre Tochter nicht zu ihrem Ebenbild
herangewachsen war?
         »Ja,
Sie reden schon sehr gut deutsch.«
         Das
stimmte, solange man sich auf ein paar Sätze beschränkte,
die sie Anette in den letzten Wochen eingebläut hatte.
         »Wie
schön! Nathan kann auch deutsch. Er hat ein paar Jahre in Berlin
verbracht, das stand in seinem letzten Brief.«
         Das
glückliche Leuchten ließ Anettes breites, unscheinbares
Gesicht plötzlich wunderschön aussehen. Viktoria nahm einen
Schluck Kaffee. In diesem französischen Haus schmeckte er so
köstlich, dass sie mit ihrem Schicksal als Lehrerin immer wieder
versöhnt wurde.
         »Mademoiselle
Virchow, ich wollte Ihnen schon lange sagen, wie sehr ich Ihren Mut
bewundere«, plauderte Anette weiter, während sie sich eine
Praline in den Mund schob. Beim Unterricht wurde stets

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