Das Geheimnis der Jaderinge: Roman (German Edition)
Sie selbst doch wissen müssten!«,
zischte Emily nun. Viktoria drehte sich staunend um. Sobald bei den
Huntingdons über Chinesen gesprochen wurde, schien plötzlich
Dynamit zu explodieren.
Margaret
schwieg, nur ihre Lippen formten unlesbare Worte. Viktoria bemerkte,
dass die flotte Polkamelodie verstummt war. Eine plaudernde
Menschentraube verteilte sich allmählich im Saal, denn das
Orchester machte eine Pause. Astrid Nielsen spazierte an der Seite
ihres Tänzers, vergaß aber nicht, allen anderen Herren,
die sie anstarrten, ein strahlendes Lächeln zu schenken. Anette
Desmoulins plauderte noch kurz mit dem kleinen, dicken
Dunkelhaarigen, der sie kurz aus ihrem Mauerblümchen-Dasein
erlöst hatte. Dann ging sie brav zu ihrem Platz zurück.
»Emily,
ein guter Christ muss lernen zu vergeben. Aber ich weiß selbst,
wie schwer das sein kann«, sagte Margaret unvermittelt. Das
Stimmengewirr erstickte ihre Worte. Nur die plötzliche
Verkrampfung von Emilys Körper verriet, dass sie dennoch alles
verstanden hatte.
Anette
Desmoulins stieß beim Vorbeigehen gegen Viktorias Fuß und
entschuldigte sich sogleich. Die hilflose Betroffenheit ihrer Miene
verriet einen Menschen, der davon ausging, stets irgendwelche
Dummheiten zu machen. Viktoria lächelte sie aufmunternd an. Sie
konnte sich dunkel erinnern, dass sie einst Mauerblümchen als
unsichtbare Wesen wahrgenommen hatte, die bestenfalls eines
spöttischen Kommentars würdig waren, wenn sie durch Tritte
auf ihre Existenz aufmerksam machten. Doch nun gehörte sie
selbst zu dieser unwichtigen Kategorie Mensch.
»Anette,
viens. Assieds-toi!«, rief eine nörgelnde Stimme. Die
propere Mademoiselle setzte sich sogleich in Bewegung. Viktoria
wandte ihren Kopf in die Richtung, aus der dieser Ruf gekommen war.
Eine kleine, zierliche Frau mit dem Gesicht einer Porzellanpuppe sah
Anette ungeduldig entgegen.
»Das
ist Madame Desmoulins, die gern davon redet, wie viele Herzen sie in
ihrer Jugend gebrochen hat«, kommentierte Margaret sogleich.
Viktoria blickte verwirrt von Mutter zu Tochter. Nur das dunkle,
dicht gelockte Haar ließ eine Verwandtschaft erahnen. Da hatte
eine liebliche Fee ein Elefantenbaby auf die Welt gebracht, dachte
sie und stellte fest, dass auch in ihr noch immer die Bosheit der
umschwärmten, reichen Tochter steckte. Dank langjährigem
Französischunterricht konnte sie mit halbem Ohr lauschen, als
Anette begeistert von ihrem Tanz berichtete. Die breiten Wangen des
Mädchens glühten vor Stolz, doch sah ihre Mutter weiterhin
aus, als litte sie an Zahnschmerzen.
»Wer
war denn der Tanzpartner des Mädchens?«, wandte Viktoria
sich neugierig an Margaret.
»Nathan
Sassoon. Neffe eines dieser Bankiers, die aus der arabischen Welt
hierher zogen. Die jüngere Generation kleidet sich meist
europäisch.«
Ein
Jude also. Das erklärte die mangelnde Begeisterung der Madame
für die erste Eroberung ihrer Tochter.
Viktoria
erinnerte sich an ihre Eltern, die einander stets aus dem Weg
gegangen waren. Auch Robert und Emily Huntingdon tauschten tagtäglich
nur die allernotwendigsten Worte, obwohl ihre Herkunft sie
füreinander bestimmt hatte. Die breite Anette und der runde
Nathan aber hatten sich angeregt unterhalten und gemeinsam gelacht,
während das Parkett unter ihren Füßen erbebte. Auf
einmal fühlte Viktoria Zorn in sich aufsteigen. Warum musste man
Menschen dem Stammbaum entsprechend verpaaren wie Rassetiere?
»Ich
habe in Hamburg viele angesehene Familien gekannt, die ihre Töchter
mit erfolgreichen jüdischen Männern vermählten«,
sagte sie laut. »Wer daran etwas auszusetzen hat, scheint mir
einfach nur rückständig.«
Das
stimmte nicht ganz, denn diese Ehen waren selten gewesen und hatten
für Gerede gesorgt, aber das brauchte hier niemand zu wissen.
Sie hörte Emily nach Luft schnappen. Margaret stieß ihr
vertrautes Kichern aus. Madame Desmoulins Blick streifte Viktoria nur
kurz, doch die Augen der jungen Anette blieben eine Weile an ihr
haften. Neugier und eine erstaunliche Sehnsucht lagen in dem Blick
der plumpen Mademoiselle.
Drei
Tage nach dem Ball traf ein Schreiben ein. Anette Desmoulins wünschte
Unterricht in der deutschen Sprache zu nehmen, und ihre Mutter
fragte, ob die Huntingdons ihre Gesellschafterin gelegentlich
entbehren könnten.
»Sagen
Sie zu«, meinte Margaret nur. »So verdienen Sie etwas
mehr Geld. Und die arme
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