Das Geheimnis der Jaderinge: Roman (German Edition)
ein ganzes
Tablett mit raffinierten Süßigkeiten serviert. Die meisten
davon verzehrte Anette.
»Ich
meine«, fuhr sie kauend fort. »So völlig allein in
ein fremdes, weit entferntes Land aufzubrechen, wo man niemanden
kennt. Also ich würde sterben vor Angst.«
Damit
beschrieb sie Viktorias Gefühle während der Reise recht
treffend, nur hatte die Seekrankheit als drohende Todesursache all
ihre Ängste, was sie in Shanghai erwarten würde, in den
Hintergrund gedrängt.
»Ich
hatte kaum eine andere Wahl«, gestand sie. »Ich war eine
ruinierte junge Dame.«
Anette
riss die Augen auf.
»Mein
Gott, wie schrecklich!«
Das
Entsetzen ließ sie nach einer weiteren Praline greifen.
»Ich
kam mit meinen Eltern nach Shanghai. Das ist drei Jahre her. Ich
vermisse meine Heimat, aber Mama meint, hier habe ich bessere
Aussichten, einen Ehemann zu finden, weil es nicht so viele
europäische junge Damen gibt.«
Viktoria
wurde klar, dass sie selbst der Madame Desmoulins womöglich ein
Dorn im Auge war.
»Es
ging aber nicht so richtig voran, genauso wenig wie in Lyon. Doch
jetzt …«
Anette
kicherte verlegen und kramte in einer Schublade herum.
»Das
ist Nathans letzter Brief. Er will sich heimlich mit mir treffen. Wir
könnten im Park am Bund spazieren gehen.«
Sie
verstummte kurz und warf Viktoria einen unsicheren Blick zu.
»Was
meinen Sie, wäre es … wäre es sehr ungehörig
von mir, wenn ich diese Einladung annehme? Ich meine, ohne Mama etwas
zu sagen, denn die würde es mir sicher verbieten.«
Anette
senkte den Blick, während sie an ihrer Praline kaute. Viktoria
unterdrückte einen ungeduldigen Seufzer. Warum konnte dieses
Mädchen keine eigenen Entscheidungen treffen?
»Es
geht um Ihr Leben, Mademoiselle. Nicht um das Ihrer Mutter«,
erwiderte sie. Anette riss ungläubig die Augen auf.
»Sie
haben eine sehr ungewöhnliche Art, die Dinge zu beurteilen. Das
liegt wohl daran, dass Sie ganz auf sich gestellt sind.«
Viktoria
fuhr leicht zusammen und spürte sogleich Anettes Hand auf ihrem
Ärmel.
»Es
tut mir schrecklich leid, wenn ich Sie verletzt habe. Das wollte ich
nicht. Ich bewundere Ihre Unabhängigkeit.«
Anettes
braune Augen waren groß und rund wie die eines verschreckten
Rehs. Viktoria versicherte sogleich, nicht wirklich verletzt zu sein.
Auf einmal begriff sie, was der ebenfalls dickliche, aber vermutlich
weltgewandte Nathan in der plumpen Französin sah. Ihre
kindliche, unverstellte Gutherzigkeit weckte den Wunsch, den Kopf in
ihren weichen Schoß zu legen, um sich ein wenig von der Welt zu
erholen.
»Also,
ich habe mir gedacht, wenn ich mich mit Nathan treffe, dann muss ich
natürlich eine Entschuldigung für Mama finden«,
plauderte Anette erleichtert weiter. »Und da dachte ich …
ich meine, wenn Sie mir nicht böse sind … vielleicht
könnte ich sagen, dass wir gemeinsam einen Ausflug machen, um
deutsche Konversation zu üben. Wären Sie … ich
meine, es ist natürlich nicht ganz anständig … aber
wären Sie bereit, für mich zu lügen?«
Viktoria
meinte, den flehenden Blick des Mädchens wie eine Berührung
auf ihrem Gesicht zu spüren.
»Seien
Sie vorsichtig, Mademoiselle Desmoulins«, mahnte sie. »Lassen
Sie sich nicht auf … auf Dummheiten ein, bevor Sie sich sicher
sind, Nathan vertrauen zu können.«
Anette
nickte ernsthaft wie ein folgsames Schulmädchen.
»Aber
natürlich, das werde ich tun.«
Viktoria
war klar, dass sie einfach tun würde, was ihr gefiel. Aber wann
konnte eine Frau denn wissen, dass einem Mann zu trauen war? Sie
selbst hatte ihrem Vater vertraut. Und Anton. Zu ihrem Entsetzen
trieb die Erinnerung ihr Tränen in die Augen, und sie wandte
sich ab, um Anettes Gewissen nicht weiter zu belasten.
»Gut,
dann soll die nächste Unterrichtsstunde also im Park
stattfinden«, meinte sie schnell. »Aber jetzt muss ich
gehen. Mrs. Huntingdon wartet auf mich.«
Sie
stand auf und wischte sich rasch die Augen trocken. Zum Glück
war Anette der Gefühlsausbruch entgangen, denn als sie brav ihr
deutsches »Auf Wiedersehen, Fräulein Virchow. Ich wünsche
Ihnen einen schönen Tag« deklamierte, leuchtete ihr ganzes
Gesicht vor Glück.
******
Eine
Woche später zog Shikai die zwei Damen zum Rand des Parks,
dessen Betreten
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