Das Geheimnis der Jaderinge: Roman (German Edition)
sehen.«
Der
Zorn riss Viktoria aus ihrer Beklemmung. Sie richtete sich auf und
krallte ihre Hände in das Polster des Sessels.
»Ich
will das nicht sehen!«, zischte sie. »Ich will …
ich will einfach sehen, wie Chinesen leben, ganz ohne Blutvergießen
und sonstige Spektakel. Und deshalb bringst du mich jetzt in die
Chinesenstadt. Sonst erzähle ich Mrs. Emily Huntingdon, dass du
heimlich Opium rauchst.«
Es
war nur ein Schuss ins Blaue. Ihr war der glasige Blick aufgefallen,
mit dem Shikai von seinen Ausflügen zurückkehrte. Sein
leichtes Schwanken beim Ziehen der Jinrikscha auf dem Heimweg.
Zunächst hatte sie befürchtet, er sei krank, doch Margaret
hatte ihr von diesem in Shanghai weit verbreiteten Laster erzählt,
das Emily ihren Angestellten unter Androhung sofortiger Entlassung
verbot. Als Shikais Augen sich zu schmalen, zornigen Schlitzen
verengten, wurde ihr klar, dass sie ins Schwarze getroffen hatte.
»Gut«,
knurrte er. »Aber Missee bleiben in Jinrikscha. Nicht springen
heraus und laufen herum.«
»Ich
mache, was ich will«, protestierte Viktoria. Was erlaubte
dieser Diener sich eigentlich? Er trat knurrend einen Schritt zurück
und musterte sie mit einem Blick, der ihr ebenfalls sehr vertraut und
zutiefst männlich schien. Der Unmut angesichts weiblichen
Eigensinns stand ihm ins Gesicht geschrieben.
»Jetzt
hören zu«, sagte er lauter als jemals zuvor. »Ich
haben drei Kinder, alte Mutter und Frau. Jetzt haben gute Arbeit,
gutes Geld. Nicht wollen verlieren, nur weil weiße Lady finden
Leben langweilig und wollen machen Unsinn. Chinesenstadt nicht für
Lady. Gefährlich. Diebe, Mörder, Leute, die wollen Frau
verkaufen. Verstehen?«
Viktoria
spürte ihr Herz vor Aufregung schlagen, doch gleichzeitig wurde
ihr flau im Magen. War es wirklich eine gute Idee, in diese
unbekannte Welt aufzubrechen?
Shikai
kam einen Schritt näher. Sein Gesicht schien plötzlich
wieder freundlich, fast unterwürfig, wie es sich für einen
Diener gehörte.
»Aber
ich kann aufpassen auf Lady.« Er zog einen kleinen, krummen
Dolch aus seinem Kittel, den er stolz in der Sonne glänzen ließ.
»Ich fahren Lady durch Chinesenstadt. Für fünf
Dollar.«
Viktoria
musste ungewollt lächeln. Überall auf der Welt drehte sich
alles ums Geld. Vermutlich hatte Shikai übertrieben, um ihr
Angst zu machen und für seinen versprochenen Schutz bezahlt zu
werden. Aber das großzügige Bestechungsgeld von Nathan
Sassoon machte es ihr möglich, das Angebot ohne weitere
Diskussionen anzunehmen.
Wieder
ging es südwärts durch die französische Konzession,
vorbei an der amerikanischen Baptisten-Mission, bis sich schließlich
ein weiteres, mit gekrümmten Giebeln und roten Laternen
verziertes Tor vor ihnen auftat, das die Jinrikscha verschluckte.
Plötzlich
wurde es dunkel, eng und ohrenbetäubend laut. Der Lärm, den
sie bereits mit Shanghai verband, bekam hier eine neue Dimension.
Unbekannte Gerüche bissen in Viktorias Nase. Sie konnte nur
einen schmalen Streifen Himmel erkennen, denn überall kauerten
Hütten und Häuser eng aneinander. Menschen sprangen vor der
Jinrikscha zur Seite, obwohl es ihr ein Rätsel war, wohin sie
verschwanden. Hier war nirgendwo der winzigste freie Platz zu
entdecken. An manchen, etwas größeren Gebäuden
baumelten die üblichen Laternen. Grellbunte, chinesische
Schriftzeichen funkelten auf, doch konnte ihre Pracht nicht über
den Schmutz der Straße hinwegtäuschen. Sie war dankbar,
dass Shikais Tempo ihr nicht die Gelegenheit gab, herauszufinden,
woraus dieser Unrat sich zusammensetzte. Aber die vor den Hütten
herumliegenden Gestalten vermochte sie nicht zu übersehen. Sie
hatte gedacht, im Gängeviertel Armut und Verwahrlosung gesehen
zu haben, doch hier erschreckte das Elend sie nicht nur, es
erschütterte ihr Verständnis der Welt. Lebten diese
ausgemergelten, mit Ausschlag übersäten Wesen überhaupt
noch? Kümmerte es jemanden außer ihr selbst? Wie um diese
Frage zu beantworten, überrollte die Jinrikscha den Körper
eines Kindes. Viktoria schrie auf. Erst als sie sich umdrehte,
erkannte sie die verfaulten Gliedmaßen eines Leichnams. Aber es
waren nicht alle hier tot. Sie spürte gierige, hungrige Blicke,
an denen Shikai sie vorbeirasen ließ. Kurz schloss Viktoria die
Augen. Es war zu viel. Es war unerträglich. Sie wollte aus
dieser Hölle fliehen, doch wusste sie den Rückweg
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