Das Geheimnis der Jaderinge: Roman (German Edition)
nicht.
Ohne Shikai war sie verloren. Viktoria beugte sich vor, um ihn
anzuschreien, dass er umkehren sollte, doch da kam die bereits heftig
holpernde Jinrikscha endgültig zum Schwanken. Es krachte. Die
Welt neigte sich zur Seite. Viktoria krallte ihre Hände in die
Polster und kreischte aus Leibeskräften.
Sie
wollte weg. Sie wollte zu der netten, verständnisvollen Mrs.
Huntingdon. Auf jeden Fall fort aus diesem China, das so ganz und gar
nicht ihren Träumen von einer exotischen, zauberhaften Welt
entsprach.
Der
schlammige Boden näherte sich ihrem Gesicht. Sie klammerte sich
an das Geländer der Jinrikscha, um in einer aufrechten Haltung
zu bleiben. Neben ihr fielen Käfige zu Boden, in denen Menschen
steckten. Kleine Menschen. Kinder. Ein großer Karren ruhte
inmitten der Straße. Seine Räder drehten sich sinnlos in
der Luft. Shikai und ein anderer Chinese brüllten, als wollten
sie die ganze Stadt mit ihrer Stimmgewalt zum Einsturz bringen.
Allmählich fügte ein Bild sich in Viktorias Kopf zusammen.
Die Jinrikscha war mit dem Karren zusammengestoßen, beide waren
umgekippt. Viktoria stützte sich auf einen der Käfige, um
aufstehen zu können, was ihr zum Glück ohne Schwierigkeiten
gelang. Sie sah zersplittertes Holz zu ihren Füßen und
begriff, dass dieser Käfig zerbrochen war. Ein Stück
daneben lag der magere Körper eines chinesischen Jungen. Auf
zitternden Beinen tastete sie sich vorwärts. Sie beugte sich
hinab und berührte vorsichtig eine der schmalen Schultern. Ihr
wurde bewusst, dass sie zum allerersten Mal einen Chinesen anfasste.
Ein leichtes Beben fuhr durch den Körper. Viktoria atmete
erleichtert auf. Dieses Kind war nicht tot. Sie griff fester zu,
wollte den Jungen herumdrehen, als er sich plötzlich aufbäumte.
Ein Schrei erklang, scharfe Zähne bohrten sich in Viktorias
Hand, die sogleich von Blut überströmt wurde. Dann war der
Junge auf den Beinen und rannte. Viktoria presste ihre verletzte Hand
gegen den Stoff ihres Kleides, um irgendwie die Blutung zu stillen.
Sie würde Jod brauchen, schoss es ihr durch den Kopf, denn hier
war die Gefahr einer Infektion sicher groß. Das Brüllen
hatte aufgehört, da der Besitzer des Karrens nun dem Jungen
hinterherlief. Er hatte ihn am Kragen gepackt, noch bevor er um die
nächste Ecke biegen konnte. Plötzlich lag eine Rute in der
Hand des Mannes, die auf den mageren Rücken nieder raste. Ein
Wimmern steigerte sich zu einem herzzerreißenden Plärren,
als die Hiebe einfach nicht aufhörten.
Eine
Sänfte tauchte zwischen den Hütten auf. Ihre Träger
blieben ratlos stehen, denn der Karren versperrte ihnen den Weg. Der
Vorhang der Sänfte bewegte sich, und Viktoria schöpfte
Hoffnung, dass nun eine wichtige chinesische Person für Ordnung
sorgen würde. Doch der alte Mann mit Spitzbart, dessen Gesicht
sich durch die Vorhänge schob, rief den Trägern nur einen
kurzen Befehl zu, sodass sie rückwärts gingen, um dem Chaos
zu entkommen.
Der
Junge schrie nicht mehr. Er hing als lebloses Bündel in der Hand
seines Peinigers, der unbeirrt auf ihn eindrosch.
»Das
soll aufhören«, sagte sie zunächst leise, als rede
sie mit sich selbst. Dann begann sie immer lauter zu schreien,
rüttelte Shikai, der gerade die Jinrikscha wieder aufstellen
wollte, wie einen Baum, der Früchte abwerfen sollte. »Sag
ihm, er soll aufhören! Er soll aufhören, das Kind zu
schlagen. Er bringt es ja um!«
Sie
spürte Blicke in ihrem Rücken und drehte sich um. Die
Kinder in den anderen, noch völlig geschlossenen Käfigen
musterten stumm den geprügelten Jungen und die schreiende,
fremde Frau. Nur einem kleinen Mädchen liefen Tränen über
die Wangen.
»Das
Menschenhändler«, erklärte Shikai. »Junge ihm
gehören, nicht dürfen weglaufen.« Mit stumpfer Miene
wandte er sich wieder zu der Jinrikscha. Viktorias Beine drohten
nachzugeben. Dieses verlockende, geheimnisvolle Tor hatte mitten in
die Hölle geführt.
»Gib
ihm Geld!«, schrie sie, ohne weiter nachzudenken. »Gib
ihm Geld, damit er den Jungen in Ruhe lässt.«
Shikai
wandte sich ihr mit einem leichten Schnauben wieder zu.
»Hier
viele arme Leute. Warum nicht ihnen geben Geld? Warum geben
Menschenhändler, damit er erst wieder Jungen schlägt, wenn
Lady weg?«
Viktoria
stampfte mit dem Fuß auf. Warum stellte Shikai sie stets als
verwöhnte Idiotin hin?
»Dann
gib ihm das Geld für den Jungen. Wir
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