Das Geheimnis der Jaderinge: Roman (German Edition)
erleichtert über die Versicherung, in der Fremde nicht
ganz allein zu sein.
»China
ist ein rückständiges, mittelalterliches Land«, fügte
Emily hinzu. »Es wäre empfehlenswert, sich an die
gegebenen Normen und Sitten zu halten, wenn Sie Ihre neue Stellung
etwas länger behalten wollen.«
Viktoria
bedankte sich mit leicht bissigem Unterton für den guten Rat.
Dann beugte sie sich zu Margaret, deren Rollstuhl ein Diener
hereingeschoben hatte.
»Sie
werden mir fehlen, Mrs. Huntingdon«, meinte sie nur. Margarets
Augen blitzten freudig auf.
»Auch
ich werde Sie vermissen. Hier noch ein letztes Geschenk von mir.«
Sie
überreichte Viktoria eine Holzkiste, in der eine Kaffeemühle,
eine Dose voller Bohnen und ein metallenes Sieb lagen.
»Gehen
Sie sparsam mit den Bohnen um, die sind in Peking sicher schwer zu
bekommen«, meinte sie mit dem üblichen leicht spöttischen
Lächeln. Viktoria nahm die Gaben freudig entgegen.
»Ich
wünsche Ihnen viel Glück. Ich glaube, es wird Ihnen in
Peking gefallen«, sagte Margaret zum Abschied. Viktoria war
froh, wenigstens ein paar aufmunternde Worte gehört zu haben,
bevor sie in die Fremde aufbrach. Mit einem nervösen Knurren im
Magen verließ sie das vertraute europäische Haus der
Huntingdons.
Die
Sänfte war mit blauen Vorhängen aus Seide versehen. Ein
wichtig scheinender Chinese trat vor, verneigte sich und sprach
einige Worte. Viktoria fand die Erscheinung vornehmer chinesischer
Herren etwas gewöhnungsbedürftig. Neben dem üblichen
Zopf unter einer schwarzen Kappe trug er ein bodenlanges Gewand, das
mit Vögeln und Blumen bestickt war und dessen Form eher einem
Morgenmantel glich denn männlicher Tageskleidung. Shikai hatte
wenigstens Hosen getragen. >
»Er
fühlt sich geehrt, dich begrüßen und zu seinem Herrn
führen zu dürfen«, übersetzte Dewei die Worte
des Herrn im Morgenmantel. Viktoria murmelte ein paar Dankesworte und
betrat das unbekannte Gefährt. Drinnen erblickte sie eine
schmale Bank, ähnlich wie bei der Jinrikscha. Mühsam
ordnete sie ihre Röcke und versuchte, sich in eine bequeme
Position zu rücken. Es war so eng in diesem Gefährt, dass
sie mit einer Tournüre kaum in der Lage gewesen wäre, ihre
Beine auszustrecken. Zum Glück schützte wenigstens ein
seidenes Kissen sie vor der Härte des hölzernen Sitzes.
Dewei war hinter ihr hereingeklettert und ließ sich zu ihren
Füßen auf dem Stoff des Rockes nieder. Er verstand es
hervorragend, sich klein und unauffällig zu machen. Viktoria
überlegte, ob es nicht für sie beide komfortabler wäre,
wenn er irgendwo anders unterkäme, denn sie hatte auch
berittenen Begleitschutz gesehen sowie Karren, die vermutlich ihr
Gepäck transportieren sollten. Der bezopfte Anführer hatte
seine eigene Sänfte und trug weniger umständliche Kleidung
als sie selbst. Doch trotz der Enge war sie froh darüber, Dewei
an ihrer Seite zu haben, der ihr immerhin schon beigebracht hatte,
dass man des Vormittags mit einem > Zǎo’ān<
grüßte, nach der Mittagszeit höflich fragen sollte,
ob jemand schon gegessen habe, und sich mit >Xièxie< bedankte. Die chinesische Sprache war ein
Sprechgesang aus an- und abschwellenden Tönen, was ihren sehr
eigentümlichen, mitunter schrillen Klang ausmachte. Doch reichte
es, einen dieser Töne nicht richtig zu treffen, um eine
unverständliche oder gar lächerliche Aussage zu machen.
Viktoria fühlte sich mitunter wie im Musikunterricht, während
sie bemüht war, nachzuplappern und ihr Ohr für unbekannte
Klangunterschiede zu sensibilisieren. Sie hatte einen englischen
Roman mitgenommen, um ihn unterwegs zusammen mit Dewei zu lesen. Der
Junge machte beschämend schnellere Fortschritte beim Lernen
einer fremden Sprache als sie selbst. Bereits nach den ersten
Unterrichtsstunden gelang es ihm, eigenständig Wörter zu
entziffern.
Sie
wurden in die Höhe gehoben. Die Sänfte begann mit den
Schritten ihrer Träger zu schaukeln.
»Tragen
die uns wirklich auf ihren Schultern bis nach Peking? Was ist, wenn
sie unterwegs zusammenbrechen?«, wandte Viktoria sich an Dewei,
der plötzlich kein kleiner Junge mehr schien, sondern ein Fels
in den Stürmen einer unbekannten Welt.
»Sie
brechen nicht zusammen«, erwiderte Dewei empört. »Dann
würden sie hart bestraft werden!«
Er
schob den Vorhang ein wenig zur Seite, um auf seine zu Fuß
laufenden Landsleute
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