Das Geheimnis der Jaderinge: Roman (German Edition)
hinabzusehen.
»Wir
reisen wie Kaiser!«, rief er stolz.
Viktoria
war weniger begeistert und untersuchte zur Ablenkung Margarets
Geschenk. Sie öffnete die Dose mit den Kaffeebohnen, um einen
geliebten, vertrauten Duft einatmen zu können, bevor sie all das
hinter sich ließ, was zu ihrer alten Welt gehörte. Doch
mitten unter dem Braun entdeckte sie einen kleinen, grellroten
Beutel, der mit chinesischen Mustern bestickt war. Neugierig löste
sie die Verschnürung und ein glatter, runder Gegenstand glitt in
ihre Handfläche.
Es
war der Jadering aus Margarets Schmuckschatulle.
8. Kapitel
Margaret
hatte sie darauf vorbereitet, dass die Reise im Sedanstuhl über
einen Monat dauern würde. Viktoria versuchte, es sich auf ihrem
Kissen so bequem wie möglich zu machen und das Gefühl der
Beklemmung zu unterdrücken, als sie die internationale Siedlung
Shanghais hinter sich ließ. Die ersten Stunden spähte sie
neugierig durch die Vorhänge. Sie zogen nun durch eine ländliche
Gegend, die nicht einmal so fremd wirkte wie befürchtet. Hügel,
Gras und Bäume, das hatte sie auch während ihrer Ausritte
mit Anton bewundern können. Ein Teil der Vegetation schien ihr
durchaus vertraut. Sie erblickte helle, von dunklen Einkerbungen
durchzogene Baumstämme, die wie Birken aussahen. Die Bäume
ragten insgesamt weniger in die Höhe, und sie sah nicht so viele
Nadeln an ihnen wie in den Wäldern Deutschlands. Bei allen
Parallelen zwischen ihrer Hamburger Heimat und der vorbeifliegenden
Landschaft gab es aber auch deutliche Unterschiede. Wirklich fremd
waren ihr die von menschlicher Hand hinterlassenen Spuren in der
Natur. Bauern mit breiten Hüten standen bis zu den Knöcheln
in bewässerten Feldern, wo sie kleine Setzlinge eingruben. So
wurde Reis angebaut. Manchmal waren diese Felder wie Terrassen
angelegt, dann erstreckten sie sich wieder in endloser, flacher
Weite. Ausgemergelte Wasserbüffel dienten den Bauern als
Lasttiere. Sie selbst transportierten schwere Gegenstände meist
an einer Stange, die auf ihren Schultern ruhte. Die braunen Gesichter
dieser Landbevölkerung glichen verbranntem Ton. Sie waren von
tiefen Falten durchzogen und hatten kaum etwas gemein mit den hellen,
gepflegten Mienen der Schauspieler und Gäste des Teehauses, die
Viktoria als letzte Erinnerung an die Chinesen aus Shanghai
mitgenommen hatte. Shen Akeu, die Besitzerin des Teehauses, hatte das
Geheimnis ewiger Jugend gekannt. Chinesische Bauernmädchen
schienen zu altern, bevor sie überhaupt zu Frauen heranreiften.
Ein
wenig war es wie in dem chinesischen Stadtviertel Shanghais, nur war
das Elend hier breiter gestreut und in eine malerische Natur gesetzt,
die seinen Anblick erträglicher machte. Außerdem stank es
zum Glück kaum.
Gelegentlich
durchquerten sie Dörfer, deren Bewohner ehrfurchtsvoll vor der
berittenen Wache zurückwichen. Die Hütten waren mit
Strohdächern bedeckt und schienen mittelalterlich in ihrer
Schlichtheit. Mitunter wagten sich Kinder vor, die bettelnd ihre
Hände ausstreckten. Viktoria war erleichtert, als ein paar der
berittenen Männer ihnen Münzen zuwarfen, anstatt sie
einfach zu verjagen, obwohl die Stimme des Anführers barsch aus
der Sänfte bellte. Sie selbst kramte ein paar Dollarscheine aus
ihrem Ridikül hervor, die sie Dewei zur Verteilung übergab.
Er verzog das Gesicht und meinte, in Bauerndörfern sei dieses
Geld kaum bekannt.
»Vielleicht
kommen diese Kinder ja eines Tages nach Shanghai«, entgegnete
Viktoria, um ihr Gewissen zu beruhigen. Warum nur war ein Land, das
solch wunderbare Kunst erschaffen hatte, so unerträglich arm?
Als
es zu dämmern begann, erreichten sie einen größeren
Ort und hielten vor einer Herberge, wo sie die Nacht verbringen
sollten. Viktoria streckte erleichtert ihre vom langen Sitzen steif
gewordenen Beine und versuchte, die neugierigen, stechenden Blicke in
ihrem Rücken zu ignorieren. Im grauen Abendlicht wirkte die
Landschaft wie der Traum von einer fremden Welt, in deren Weite sich
Viktorias Blick verlor. Am liebsten wäre sie noch eine Weile
herumgelaufen, doch der Anführer, dessen Namen sie sich
allmählich als Gu Xiadong einzuprägen begann, winkte sie
mit ein paar Verbeugungen ungeduldig in das große Holzhaus.
Diese Mischung aus Unterwürfigkeit und energischem Auftreten
schien Chinesen wohl eigen. Viktoria war überzeugt davon, dass
er in der Lage wäre, sie an den Haaren in die Herberge zu
zerren,
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