Das Geheimnis der Jaderinge: Roman (German Edition)
Diplomaten in Frage kam.
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Nun
saß sie im Schatten der kleinen, knorrigen Bäume, die im
Garten wuchsen. Diener hatten Stühle aufgestellt und brachten
Erfrischungen, während Viktoria den ersten Versuch unternahm,
ihren Schülerinnen ein englisches Buch näherzubringen. Sie
hatte sich für Jane Eyre entschieden, eines ihrer
Lieblingsbücher, da sie hoffte, dass auch Frauen aus einer
anderen Welt Sympathien für die unscheinbare, aber tapfere und
aufrechte Heldin würden entwickeln können.
Die
Damen hatten bisher sehr unterschiedliche Fortschritte gemacht. Lao
Tengfeis Töchter plauderten inzwischen recht munter drauflos,
sobald sie den Mut dazu fanden. Viktoria vermutete, dass Dewei hier
Mithilfe geleistet hatte. Jinyu, die erste Gemahlin, war meist nur
körperlich anwesend, da sie in jenen süßen Träumen
schwebte, die ihr das Opium schenkte. Viktoria nahm es hin, denn ein
stets abwesender Geist ließ sich nicht mit Wissen füllen.
Ein unerklärliches Gefühl von Loyalität mit einer
Frau, die inzwischen durch zwei jüngere ins Abseits gedrängt
worden war, hinderte sie daran, dies dem Hausherrn mitzuteilen.
Vermutlich wusste er es ohnehin. Sie hatte inzwischen begriffen, dass
Chinesen viele Dinge gern unausgesprochen ließen, um unnötiges
Aufheben zu vermeiden.
Chuntian,
die dritte Gemahlin, lernte in einem atemberaubenden Tempo. Ihr
zunächst holpriges Englisch, das sie an einem bisher unerwähnten
Ort gelernt hatte, war in wenigen Monaten so flüssig geworden,
als habe sie von Kindesbeinen an keine andere Sprache gesprochen. Sie
liebte die Unterrichtsstunden, blieb meist noch, wenn die anderen
Frauen bereits davongeeilt waren, um Viktoria Ratschläge zu
geben. Offenbar war es Chinesen völlig fremd, dass Substantive
mit Artikeln versehen wurden oder dass ein Verb verändert werden
musste, um die Vergangenheit oder Zukunft auszudrücken. Daher
plapperte sie beim Unterricht manchmal auf Chinesisch dazwischen,
damit alle begriffen, was die Lehrerin meinte. Nun saß sie
erwartungsvoll da, hatte ihren Blick auf das Buch gerichtet. Solche
Schülerinnen waren Gottes Geschenk an Lehrer, befand Viktoria
und lächelte Chuntian dankbar an.
Die
zweite Ehefrau Meigui sah wie immer bezaubernd aus. Sie gehörte
zu den Frauen, die wohl auch dann einen tadellosen Eindruck machten,
wenn sie mitten in der Nacht aus dem Bett springen mussten, weil das
Dach über ihnen brannte. Ihr Gesicht war das eines verwöhnten,
gelangweilten Mädchens. Viktoria wusste mittlerweile, dass mehr
Energie in diesem zarten Wesen steckte, als der erste Anblick
verriet. Meigui war die eigentliche Herrin des Hauses, vermochte
Diener nur durch einen leisen Seufzer der Ungeduld springen zu lassen
und erwies sich eisern bei Verhandlungen über den Preis
angebotener Waren. Die Verwaltung von Lao Tengfeis Besitz lag in
ihren zarten Händen, die lange, spitze, scharfe Nägel
aufwiesen. Den von ihrem Gemahl angeordneten Englischunterricht
ertrug sie mit Widerwillen, hob immer wieder die Hand, um Ringe
aufblitzen zu lassen, während sie ein Gähnen unterdrückte.
Nun
glitt ihr Blick kurz über das Buch in Viktorias Händen.
»Um
was für Frau geht es?«, rief sie. Viktoria nahm erfreut
zur Kenntnis, dass der Unterricht auch bei dieser störrischen
Schülerin zarte Früchte getragen hatte. Meigui war alles
andere als dumm und so sehr das Englische ihr auch zuwider sein
mochte, nachdem sie Viktorias Unterricht mehrere Monate ausgesetzt
gewesen war, konnte sie sich in der fremden Sprache verständigen.
»Um
ein junges Mädchen, das keine Eltern hat, von den Verwandten nur
geduldet wird und viel erleiden muss, bevor es den richtigen Mann
findet«, erwiderte Viktoria in der Hoffnung, so ein wenig
Interesse zu wecken.
»Hat
große Füße?«, kam es sogleich von Meigui.
Viktoria unterdrückte ein Kichern.
»In
Europa haben alle Frauen große Füße, so wie ich.«
Sie war sich sicher, dies bereits mehrfach erklärt zu haben.
Meigui
stemmte sich mit ihren dünnen Armen hoch und schwankte ein paar
Schritte.
»Ich
will nicht lesen Buch über Frau mit große Füße.
Barbaren nicht wichtig.«
Kurz
musterte sie Viktorias Schuhwerk aus den Augenwinkeln. Plötzlich
fühlte Viktoria sich plump in ihrer überragenden
Körpergröße, mit hässlichen, elefantenartigen
Gliedmaßen versehen. All ihre Erleichterung, unbehindert laufen
zu können,
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