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Das Geheimnis der Jaderinge: Roman (German Edition)

Das Geheimnis der Jaderinge: Roman (German Edition)

Titel: Das Geheimnis der Jaderinge: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tereza Vanek
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bröckelte unter der Wucht von Meiguis
verächtlichem Blick.
         Mit
leisem Seidenrauschen entfernte sich die zweite Gemahlin, um ihr Haus
aufzusuchen. Viktoria blieb tapfer stehen, obwohl sie in diesem
Moment am liebsten auch davongelaufen wäre. Sie hatte das
Gefühl, bei einem Zweikampf erbärmlich geschlagen worden zu
sein.
         »Gibt
es in Europa ein Buch, in dem Chinesen vorkommen?«, riss
Chuntians Stimme sie aus ihrer Starre. Viktoria kramte verwirrt in
ihrer Erinnerung. Sie meinte, nochmals eine Niederlage zu erleiden,
als sie den Kopf schüttelte.
         »Schade«,
meinte Chuntian nur. »In einem sehr berühmten chinesischen
Roman wird ein Europäermädchen erwähnt.«
         Sie
wandte sich den drei Töchtern ihres Gemahls zu, die mittlerweile
Englisch verstanden.
         »Der
Traum der roten Kammer«, erklärte sie sehr langsam und
deutlich. »Dort erinnert eine der Freundinnen von Bao-yu sich
an eine Europäerin, die sie kannte und die sehr schöne
Gedichte auf Chinesisch schrieb. Kein Wort von Barbaren!«
         Viktoria
fiel das Atmen wieder etwas leichter.
         »Und
da fällt mir noch ein, dass in dem Buch ein europäisches
Bild erwähnt wird«, redete Chuntian weiter. Den dankbaren
Blick, den Viktoria ihr zugeworfen hatte, nahm sie nicht wahr, denn
ihr ganzes Bewusstsein war auf den Text gerichtet, der für
Andere unsichtbar vor ihrem inneren Auge ruhte.
         »Auf
dem Bild war eine junge Frau mit gelbem Haar zu sehen. So wie unsere
Lehrerin. Aber aus ihrem Rücken wuchsen Flügel. Gibt es in
Europa wirklich solche Frauen?«
         Chuntians
schmale Augen musterten Viktoria so ernst und erwartungsvoll, dass es
unmöglich wurde, über die Frage zu lachen.
         »Das
war ein Engel«, erklärte Viktoria nur. Dann wurde ihr
klar, dass Chuntian dieses Wort nicht kannte.
         »Ein
magisches Wesen. Xiānnǚ«, wiederholte sie eines der
ersten chinesischen Wörter, die sie von Dewei gelernt hatte.
Zwar war ein Engel nicht wirklich eine Fee, aber der Vergleich
erleichterte das Verständnis.
         Chuntian
nickte, sichtlich erfreut, etwas gelernt zu haben.
         »Auch
Europäer kennen Xiānnǚ. Das könnte ein Beweis
dafür sein, dass es Xiānnǚ wirklich gibt. Überall
auf der Welt«, erklärte sie den Töchtern ihres
Gemahls, ja sie sah sogar die in Opiumträumen schwebende Jinyu
an, als erwarte sie, eine derartig aufregende Erkenntnis müsse
die Frau ins wahre Leben zurückholen.
         Aus
der Ferne ertönte ein Glockenschlag. Viktoria wurde klar, dass
eine neue chinesische Stunde begann, die zwei europäische
Stunden umfasste. Jeden Abend, so gegen sieben Uhr, wurde eine
Trommel dreizehn Mal geschlagen, um den Beginn einer neuen Berechnung
anzukündigen. Nachts erklang nur noch ein einzelner
Trommelschlag, tagsüber die Glocke, die das Ende einer weiteren
Doppelstunde verkündete.
         »Ich
denke, wir können den Unterricht für heute beenden«,
meinte Viktoria an die restlichen Versammelten gewandt. »Vielleicht
ist die zweite Dame des Hauses morgen besserer Laune und willens,
sich einem Buch über Frauen mit großen Füßen zu
widmen. Denn wie wir gesehen haben, lässt sich aus Büchern
einiges lernen.«
         Die
jüngste Tochter des Hausherrn kicherte.
         »Die
Dame Meigui oft schlechter Laune«, sprudelte es aus ihr heraus.
»Nicht wichtig. Besser nicht hinhören.«
         Viktorias
Laune verbesserte sich mit jeder Minute. Sie hatte sich angefeindet
und öffentlich bloßgestellt gefühlt, doch schien es,
als habe sie mit einer Feindin auch mehrere Freundinnen gewonnen. Die
Mädchen eilten davon, nur ihre älteste Schwester, deren
Füße bereits Bandagen trugen, konnte sich nicht mehr mit
kindlichem Überschwang bewegen. Jinyu wurde von ihrer
persönlichen Dienerin fortgebracht. Chuntian saß weiterhin
auf ihrem Stuhl.
         »Ich
freue mich auf das Buch«, sagte sie. »Ich wollte schon
immer die Bücher der Europäer lesen und sehen, ob sie
völlig anders sind als unsere.«
         Mit
einem Mal erinnerte sie Viktoria an eine ihrer früheren
Gouvernanten, eine unscheinbare alte Jungfer, deren Gesicht bei
Gesprächen über Bücher und Kultur derart zu strahlen
begonnen hatte, dass es auf eine ganz eigene, ungewöhnliche Art
hübsch geworden war.
         »Sie
lesen gern Bücher?«, fragte sie jenes fahrige,
unordentliche Mädchen, das gerade ihre Retterin gewesen war.
         Chuntian
nickte zögernd.
        

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