Das Geheimnis der Jaderinge: Roman (German Edition)
»Es
heißt, dass eine gute Frau sich besser um Kinder und Haushalt
kümmern soll«, gestand sie leise. »Aber ich komme
nicht gegen meine Sehnsucht nach Büchern an. Das ist wie bei der
ersten Dame mit ihrem Opium.«
»Da
sind Bücher ein wesentlich kleineres Übel«, sagte
Viktoria lachend und trat einen Schritt auf Chuntian zu.
»Wollen
Sie kurz mit in mein Haus kommen? Ich kann Ihnen einige Bücher
zeigen, die ich mitgebracht habe. Und ich würde gern etwas über
dieses Buch erfahren, von dem Sie gerade sprachen. Das mit der roten
Kammer.«
Chuntian
sprang auf die Beine und eilte aufgeregt neben Viktoria her.
»Das
mit Meigui«, begann sie unterwegs. »Das ist nicht
wichtig. Bitte denken Sie nicht, dass wir alle hier unhöflich
sind.«
Viktoria
lächelte nachsichtig.
»Das
seid ihr ja nicht. Diese zweite Dame mag mich einfach nicht. Das war
von Anfang an so.«
Chuntian
blieb kurz stehen, legte die Stirn in Falten.
»Es
ist nur, weil er mit Ihnen redet. Nicht wegen Ihrer Füße«,
meinte sie nach einem kurzen Augenblick des Grübelns. Nun
erstarrte Viktoria in einem ihrer Schritte.
»Weil
wer mit mir redet? Lao Tengfei!«, beantwortete sie selbst ihre
Frage. Es stimmte, dass der Mandarin sie regelmäßig in
seinen Empfangsraum lud, um mit ihr bei endlosen Tassen Tee über
die Bräuche und Gedanken der Europäer zu reden. Viktoria
hatte von ihm auch einiges über China gelernt, ahnte nun etwas
von einem höchst komplizierten Gebilde aus Gegensätzen und
Übereinstimmungen, das nach chinesischem Empfinden der
Weltordnung zugrunde lag. Yin und Yang, weiblich und männlich,
Wasser und Feuer, Kälte und Wärme, all dies musste stimmig
zusammengefügt werden, damit Harmonie entstand. Sie hätte
derartige Vorstellungen als unnötig verzwickten Unsinn abgetan,
wäre da nicht dieser zauberhafte Garten, wo sie eben jene
Harmonie bis in die Tiefen ihres Seins einsaugen konnte.
»Aber
da ist nichts weiter als Gespräche, nicht einmal besonders
persönliche«, meinte sie staunend. Lag es daran, dass auch
sie im Hof der Frauen wohnte, was bereits Max von Brandt missfallen
hatte?
»Bisher
war Meigui die einzige Frau hier, mit der er redet«, entgegnete
Chuntian sogleich. »Sie weiß, wie schön sie ist. Und
wie tüchtig.«
»Und
ich«, erkannte Viktoria, »bin in ihren Augen keines von
beidem, verdiene daher seine Aufmerksamkeit nicht.«
Chuntian
schwieg, was eine höfliche Art der Zustimmung schien.
»Na
gut, meine Füße sind tatsächlich viel größer
als ihre. Das scheint bei euch ja eine Tragödie zu sein«,
meinte Viktoria und tat einen energischen Schritt vorwärts, um
sich selbst von dem Vorteil solcher Füße zu überzeugen.
Chuntian konnte ihr allerdings ohne große Mühe folgen.
»Ihre
Füße sind aber auch fast normal entwickelt«, entfuhr
es Viktoria. Dann biss sie sich erschrocken auf die Lippen, denn
diese Aussage konnte in China wohl als Beleidigung verstanden werden.
Sie
hatten bereits das Haus erreicht. Viktoria schickte Dewei, der lesend
auf dem Bett lag, los, damit Tee gebracht wurde. Dann bot sie
Chuntian einen Stuhl an.
»Trotzdem
sind Ihre Füße deutlich kleiner als meine«, erklärte
sie dann, um ihre Taktlosigkeit wieder gutzumachen. Chuntian neigte
den Kopf zur Seite.
»Meine
Mutter entfernte die Bandagen, als ich noch ein Kind war«,
erzählte sie mit plötzlicher Offenheit. »Danach war
es zu spät, um noch etwas zu ändern. Ich habe große
Füße wie eine Bäuerin.«
»Oder
wie eine Europäerin«, fügte Viktoria aufmunternd
hinzu. »Warum hat Ihre Mutter denn die Bandagen entfernt?«
Chuntian
senkte den Blick auf ihre Finger, die sich ineinander verknoteten.
»Sie
hielt es für richtig. Ich sollte mich frei bewegen können
und … und …« Plötzlich verstummte sie für
einen Moment und bohrte die Vorderzähne in ihre Unterlippe. »Sie
war eine … eine Frau mit seltsamen Ideen«, beendete sie
schließlich ihre Rede.
Viktoria
wollte neugierig nachfragen, was das denn für Ideen gewesen
waren, doch Chuntian kam ihr zuvor.
»Sie
wollten mir Bücher zeigen. Darf ich sie jetzt sehen?«
******
In
den nächsten Wochen wurde Chuntian zu einem festen Bestandteil
in Viktorias Leben. Sie war ein gern gesehener Gast in dem kleinen,
rot lackierten Holzhaus, wo sie sogar
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