Das Geheimnis der Jaderinge: Roman (German Edition)
nicht
gegenübersitzen.
»Das
Englische wird als wichtiger angesehen. Auf welche Weise sollte ich
Deutschland denn helfen, indem ich hier unterrichte?«, fragte
sie dann. Als sie die Lehrerin von Lao Tengfeis Frauen geworden war,
hatte sie in erster Linie sich selbst helfen wollen.
»Nun«,
begann Max von Brandt und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück.
»Wir Deutschen kommen etwas spät. Die Engländer haben
die chinesischen Häfen dem Westen geöffnet, die Franzosen
zogen nach. Nun sollte auch unsere Nation versuchen, hier Fuß
zu fassen.«
Viktoria
nickte.
»In
Shanghai haben sich bereits einige Händler aus Deutschland
niedergelassen«, erzählte sie. Dann fiel ihr ein, dass Max
von Brandt das sicher wusste. Aber er wies sie nicht auf ihre
Dummheit hin, sondern begann mit ernster Miene zu reden.
»Es
geht um größere Geschäfte, Fräulein Virchow.
Dieses Land, ja ganz Ostasien, ist sozusagen eine Goldgrube. Hier
wurden schon vor vielen Jahrhunderten erstaunliche Erfindungen
gemacht. Bereits im alten Rom verzehrten vornehme Damen sich nach
feiner, chinesischer Seide. Darüber hinaus haben viele
europäische Völker am Tee Geschmack gefunden. Militärische
Stützpunkte auf anderen Kontinenten wären für
Deutschland von großem Vorteil, vor allem, was die Marine
betrifft. Doch bedauerlicherweise meint unser Kanzler Bismarck, wir
Deutschen sollten in Ostasien keine Position beziehen. Ein Fehler, in
meinen Augen, ein schwerer Fehler.«
Max
von Brandt nippte kurz an seiner Tasse. Dann fuhr er sogleich fort,
denn dieses Thema schien ihn zu begeistern.
»Die
Briten haben in Indien Fuß gefasst. Nun importieren sie von
dort Opium nach China und machen so hervorragende Geschäfte.«
Plötzlich
schmeckte der Kaffee erstaunlich bitter auf Viktorias Zunge. Selbst
das zweite Stück Marmorkuchen auf ihrem Teller lockte nicht mehr
ganz so dringlich.
»Aber
schadet die Opiumsucht den Chinesen denn nicht?«, warf sie
zaghaft ein. Zu ihrem Staunen musterte Max von Brandt sie mit einer
gewissen Anerkennung.
»Ich
sehe, Sie wissen bereits einiges über dieses Land. Und Sie haben
ein mitfühlendes Herz.«
Viktoria
rutschte auf ihrem Stuhl.
»Das
gilt ja allgemein als sehr weibliche Eigenschaft«, erwiderte
sie bissiger als beabsichtigt, denn sie fühlte sich an die
spöttischen Kommentare Robert Huntingdons erinnert.
»Es
ist bei beiden Geschlechtern eine überaus löbliche
Eigenschaft«, entgegnete der deutsche Gesandte und stieg
dadurch in ihrer Achtung. »Aber die eigentlichen Ursachen der
Opiumsucht liegen im Wesen der Chinesen. Sie verfügen über
eine herausragende Kultur, doch konnten all die großartigen
Ideen der alten Gelehrten keine wirklich moralische Gesellschaft
schaffen. Der Staat ist von Korruption zerfressen, überall zählt
nur der Schein, nicht das Wesen. Der Einzelne muss sich der Gruppe
unterordnen, der Familie in erster Linie, deren Wohl am Ende
wichtiger ist als alle moralischen Erwägungen. Was den Menschen
hierzulande fehlt, ist sozusagen Stehvermögen, Rückgrat.
Der Mut, sich aus eigener Überzeugung gegen Verderbtheit und
Unrecht zu stellen.«
Viktorias
Kopf drehte sich. Es war lange her, dass jemand ein derartiges
Gespräch mit ihr geführt hatte. Mit Ideen und Möglichkeiten
zu jonglieren, nach den Ursachen für den Zustand der Welt zu
suchen und im Geiste andere Bilder von ihr zu malen, all dies hatte
sie einst mit ihrem Vater geübt, doch nun schien ihr
Vorstellungsvermögen ein erlahmter Muskel.
»Ist
es denn nicht überall so, dass Menschen sich lieber fügen
und Ärger vermeiden, anstatt offen ihre Meinung zu sagen?«,
warf sie nach einigem Grübeln ein.
Max
von Brandt nickte.
»Natürlich.
Doch in unserer Kultur werden Menschen ermutigt, sich gegen schlechte
Einflüsse zu wehren und Widrigkeiten zu trotzen. In China geht
es vor allem darum, sich gefällig zu zeigen und nicht dem
Ansehen der Familie zu schaden.«
Viktoria
war sich nicht sicher, ob nicht auch viele Europäer die
Anpassung dem Widerstand vorzogen.
»Aber
was hat das mit Opium zu tun?«, fragte sie schließlich.
»Alles
und nichts«, erwiderte der Gesandte. »Der Chinese ist
unfähig, der Versuchung zu widerstehen. Nicht jeder Chinese
natürlich, aber die Mehrheit. Würden die Briten das Opium
nicht liefern, so wären es eben chinesische
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