Das Geheimnis der Jaderinge: Roman (German Edition)
blieb und mit Dewei plauderte,
wenn die Lehrerin sich zu längeren Unterhaltungen mit dem
Hausherrn traf. Als Viktoria ihr eines Nachmittags die Funktion der
Kaffeemühle vorführte, sah sie neugierig zu, sog den Duft
der gemahlenen Bohnen ein und äußerte zaghaft den Wunsch,
an dem Getränk nippen zu dürfen. Sie versicherte, dass es
vorzüglich schmecke, doch ihr Gesichtsausdruck zeugte von
mäßiger Begeisterung.
»Gewöhnlich
schütten wir etwas Milch oder Sahne dazu«, erklärte
Viktoria. »Dann schmeckt es nicht so bitter. Aber ich habe
keine Ahnung, wo ich hier Kuhmilch bekommen kann.«
Chuntians
schmale Augen wurden etwas runder.
»Niúnǎi,
Milch von Kuh, das trinkt doch kein Mensch. Es stinkt.«
Viktoria
beschloss, Max von Brandt zu fragen, woher er Milch und Sahne bezog.
Dann packte sie weitere Bücher aus ihrem Koffer, denn Chuntian
hatte sich erkundigt, ob sie etwas über die Literatur und
Sprache des Landes erfahren könnte, aus dem ihre Lehrerin
stammte. Viktoria beschloss, mit Schiller zu beginnen. Kabale und
Liebe hatte sie in Hamburg mehrfach mit ihrem Vater gesehen und von
Herzen geliebt. Sie ließ Chuntian einen Blick auf den Text
werfen und fasste die Handlung mit knappen Worten zusammen.
»Verbotene
Liebe. Die Familien sind dagegen und es kommt zur Tragödie. Die
engstirnige Welt steht den Liebenden im Weg. Solche Geschichten gibt
es bei euch ja auch. Ich meine, in diesem Traum von der roten Kammer,
da kann der Romanheld auch nicht das Mädchen seiner Wahl
heiraten. Es stirbt an gebrochenem Herzen.«
Viktoria
war durchaus angetan gewesen von dem fremden, aber überaus
menschlichen Text, den Chuntian ihr in gekürzter Fassung
vorgetragen hatte.
»Aber
Baoyu sieht schließlich ein, dass es richtig war, ihn mit einer
anderen Frau zu vermählen«, entgegnete Chuntian leise.
»Lin Daiyu ist sehr eigensinnig, will ihr Schicksal nicht
hinnehmen. Als verarmtes Mädchen, das auf die Gnade der Familie
angewiesen ist, kann sie nicht die erste Gemahlin der Erben werden.«
Viktoria
fuhr auf.
»Und
warum bitte nicht, wenn sie sich lieben? Warum sollen Familie und
Gesellschaft immer alles bestimmen?«
Sie
dachte an Anton. In Wahrheit bestimmte alles das Geld.
»Weil
die Familie es besser weiß«, entgegnete Chuntian, doch
klang ihre Stimme schwach, entbehrte echter Überzeugung.
»Also
jetzt erzähle mir bitte nicht, dass all eure Theaterstücke
so sind!«, protestierte Viktoria. »Ich habe einige in
Shanghai gesehen, aber nicht viel verstanden. Es ging jedenfalls fast
immer um Liebe. Die kann doch so übel nicht sein, wenn sie
Menschen Glück schenkt.«
Wieder
dachte Viktoria an Anton. Ein französisches Lied, das sie einst
von einer ihrer Gouvernanten gelernt hatte, erklang in ihrem Kopf:
»Plaisir d’amour ne dure qu’un moment.
Chagrin
d’amour dure toute la vie.« Das Glück der Liebe
dauert nur einen Moment. Der Schmerz der Liebe dauert ein ganzes
Leben. Sie riss sich zusammen. Ihr Leben war nicht unglücklich.
Vielleicht sollte sie keine Liebesgeschichten mehr lesen, sondern
sich mit ernsten Themen wie Politik befassen.
»Du
hast in Shanghai chinesische Theaterstücke gesehen?«,
rüttelte Chuntians aufgeregte Stimme sie aus den düsteren
Gedanken. »Erzähle mir davon! Es gibt einige, die ich
gelesen habe. Ich würde sie so gern einmal auf der Bühne
erleben!«
Ihre
Wangen glichen glatten, roten Äpfeln. Viktoria fühlte sich
an ein kleines Mädchen erinnert, das etwas über die
Geheimnisse der erwachsenen Welt hören wollte.
»Es
muss hier in Peking doch auch Theater geben. Das ist eine riesige
Stadt. Warum gehst du nicht einmal hin?«, meinte sie
kopfschüttelnd und schenkte sich eine weitere Tasse Kaffee ein.
Chuntian
hatte den Kopf gesenkt und musterte sie durch lose Haarsträhnen.
»Das
schickt sich nicht. Mein Gemahl wünscht es nicht.«
»Herrje,
das sind doch nur Theaterstücke! Ich bin in meiner Heimat schon
mit fünfzehn ins Theater gegangen, zusammen mit meinem Vater«,
entgegnete Viktoria. »Ich werde mit deinem Gemahl reden und du
wirst sehen, in ein paar Tagen schon können wir aufbrechen.«
Sie
nippte an ihrem Kaffee, der nun auch schwarz vorzüglich
schmeckte. Die Aussicht auf buntes, lautes Treiben auf einer Bühne
hatte alle dunklen Wolken aus ihrem Kopf gejagt. Chuntian würde
ihr
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