Das Geheimnis der Jaderinge: Roman (German Edition)
Augen auf. Sophie hatte ihren Vater zwar gemocht,
aber sich niemals so direkt nach seinem Befinden erkundigt. Der Herr
Virchow galt als glücklicher Sonderling. Er hatte ein Vermögen
geerbt, das es ihm ermöglichte, seiner Leidenschaft nachzugehen
und Kunstwerke zu sammeln. Die Leitung der Reederei lag seit Jahren
in den Händen von Albert Behm, dem Direktor, der für seinen
Einsatz großzügig entlohnt wurde.
»Meinem
Vater geht es gut wie immer«, erwiderte sie wie aus der Pistole
geschossen. Dann setzte ein wenig Reflektion ein.
»Er
leidet wahrscheinlich darunter, dass er nicht mehr der wichtigste
Mann in meinem Leben ist«, gestand sie. »Er … also
… er traut Anton leider nicht ganz. Aber ich bin mir sicher,
wenn ich glücklich verheiratet bin und meinen Vater trotzdem
noch oft besuche, dann kommt alles wieder in Ordnung.«
Sophie
schüttelte nachsichtig lächelnd den Kopf.
»Du
meinst immer, dass die Welt sich nur um dich dreht«, sagte sie
ohne echte Bosheit. »Dein Vater könnte doch auch andere
Sorgen haben.«
»Was
für Sorgen denn?«, fragte Viktoria verwirrt. Sophie
rutschte kurz auf dem Sofa herum. Auch sie wurde von dem Übermaß
an Kissen behindert.
»Ach,
ich meine nichts Bestimmtes. Mein Mann deutete kürzlich an, dein
Vater hätte vielleicht finanzielle Schwierigkeiten.«
Viktoria
schüttelte ungläubig den Kopf. Seit sie denken konnte, war
Geld niemals ein Problem gewesen. Das Virchow-Vermögen hatte
elegante Kleidung, Gouvernanten und eine Schar emsiger Dienstboten zu
einem selbstverständlichen Teil ihres Lebens gemacht. Ihr Vater
lebte in seiner eigenen Welt von Schönheit und Kunst. Bei der
Vorstellung, er könnte unter finanziellen Sorgen leiden, musste
sie laut auflachen.
»Mein
Vater hat Geld genug, keine Sorge.«
Sophie
nickte schweigend.
»Dann
ist ja alles in Ordnung. Möchtest du noch etwas Kaffee? Die
Kanne ist leer.«
Viktoria
spürte ein nervöses Knurren in ihrem Magen. Sie hatte zu
viel von dem mitgebrachten Brot an die Enten verfüttert.
»Ich
glaube, ich muss bald aufbrechen«, sagte sie und stand auf.
»Zeig
mir noch mal das Geschenk deines Vaters. Ich würde es gern aus
der Nähe sehen«, hielt Sophie sie zurück. Viktoria
streckte gehorsam den rechten Arm aus, an dem der Drachenreif hing.
»Wunderschön.
Ausgefallen und exotisch, ohne protzig zu sein. Dein Vater lebt auf
großem Fuß, aber er hat auch Geschmack. All das kann er
sich ja erlauben«, kommentierte die Freundin das Schmuckstück.
Viktoria meinte, einen Hauch von Gift in ihrer Stimme zu hören,
umarmte Sophie aber dennoch zum Abschied. Als sie die Stufen
hinabstieg, drückte plötzlich die Ahnung von etwas
Bedrohlichem und Ungewissem ihre Schultern nieder. Sie schüttelte
sich entschlossen. Bisher war in ihrem Leben alles ihren Wünschen
gemäß verlaufen. Sie sah keinen Grund, warum sich dies auf
einmal ändern sollte.
******
Ein
junger Bursche brachte Viktorias Pferd zurück, das in dem
kleinen Stall hinter dem Haus des Herrn Deggentoff auf sie gewartet
hatte, und half ihr in den Sattel. Sie ritt durch enge Gassen, bis
weite, von Bäumen umsäumte Alleen sie ins vornehme
Marienthal führten. Schließlich konnte sie das Pferd einem
weiteren Stallknecht anvertrauen. Erst als sie durch die große
Eingangstür der Villa trat, wurde ihr bewusst, dass diese
Heimkehr das Missfallen ihrer Mutter erregen könnte. Eine Dame
ritt nicht einfach allein durch die Stadt. Anton hätte sie
begleiten sollen, aber Viktoria war es unangenehm, die Dienste eines
Wachhundes von ihm einzufordern. Davon abgesehen hatte er sich nicht
angeboten zu warten. Viktoria störte sich nicht daran. Warum
sollte Anton ein hilfloses Wesen in ihr sehen, das stets seinen
Schutz brauchte?
Sie
betrat ihr Heim, grüßte kurz den herbeieilenden,
ranghöchsten Kammerdiener und ging weiter, um ihm klar zu
machen, dass sie keiner Hilfe bedurfte. Als sie die Stufen zum ersten
Stock erklommen hatte, hoffte sie, unauffällig in ihr Zimmer zu
gelangen und dort nach Magda klingeln zu können, doch die Tür
zu den Räumen ihrer Mutter flog auf und zerstörte diese
Illusion.
»Ich
muss mit dir reden, Viktoria«, meinte die Stimme Amalia
Virchows mit dem gewohnten Hauch von Missfallen. Viktoria nickte
schicksalsergeben und ließ sich von ihrer Mutter in deren
Privatzimmer ziehen. Es war
Weitere Kostenlose Bücher