Das Geheimnis der Krähentochter
Gaukler berichtete. Und dann
wieder sah Bernina das blanke Entsetzen im Blick ihrer Zuhörerin, wenn sie von
dem berichtete, was sie in Ippenheim und anschließend auf der Flucht aus dieser
Stadt erlebt hatte.
Als Anselmos Tod unweigerlich zur Sprache kam, teilte sie Berninas
Trauer. Nicht mit vielen unnötigen Worten, sondern mit Gesten, indem sie
einfach mal ihren Arm um Berninas schmale Schultern legte.
Bernina fühlte die Erleichterung, die sie erfasste, als sie von
ihren Gefühlen sprechen konnte, während sie ihr Herz ausschüttete wie früher
einmal bei Hildegard. Die Trauer blieb, aber sie war leichter zu ertragen, wenn
Bernina sie in Worte fassen und in Erinnerungen eintauchen konnte, ohne dass
diese sie zu erdrücken schienen.
Abgesehen von der Gräfin kam sie allerdings
mit niemandem im Palast in Kontakt, auch nicht mit dem Oberst, der sich
inzwischen nicht mehr an den Abenden vor ihre Zimmertür stahl.
Viele Nachmittage liefen so ab: Bernina und die Gräfin saßen auf
Stühlen am Fenster des Zimmers, zwei Frauen, die sich unter normalen Umständen
niemals begegnet wären, nun aber recht schnell Sympathie für die jeweils andere
entwickelt hatten.
Bernina versuchte immer wieder, ihre Dankbarkeit für die
Gastfreundschaft zum Ausdruck zu bringen. »Ich kann doch nicht einfach
hierbleiben«, erklärte sie.
Verständnisvoll hörte die Gräfin zu.
»Schließlich gehöre ich nicht hierher«, fuhr Bernina fort. »Ich
muss eine neue Richtung in meinem Leben finden und weiterziehen.«
»Weiterziehen«, nahm die Gräfin das Wort auf. Nur dass es sich aus
ihrem Mund anders anhörte. »Wohin denn, wenn ich fragen darf?«
»Das weiß ich noch nicht. Aber mein Entschluss steht fest. Ich
möchte nicht zur Last fallen. Vielleicht …«
»Sie fallen gewiss niemandem zur Last.«
»Vielleicht werde ich von Neuem zu Melchert Poppel stoßen. Ihm
kann ich helfen, ich kann mich nützlich machen.«
»Der Feldarzt?«
»Ja, natürlich«, sagte Bernina. »Ich kann bestimmt …«
»So, meine Liebe«, wurde sie erneut unterbrochen. »Jetzt werde ich
Ihnen etwas sagen.« Die Gräfin machte eine Pause.
»Ja, bitte?«
»Sie bleiben hier. Es kommt gar nicht infrage, dass Sie wieder zu
diesem Arzt gehen. Ich lasse Sie gewiss nicht mehr in den Krieg ziehen.« Mit
jeder Silbe gewann die Stimme an Schärfe. »Also, das wäre ja noch schöner. Es
reicht doch wahrlich, dass die Männer dumm genug sind, sich Jahr für Jahr ihre
Schädel einzuschlagen. Dabei müssen wir sie nicht noch unterstützen.«
Bernina wollte widersprechen, kam aber gar nicht zu Wort. »Also
nein, meine Liebe, das lasse ich nicht zu. Sie bleiben hier. Auf jeden Fall,
bis der Winter endlich vorbei ist, bis es wärmer ist. Und ich sage Ihnen, das
kann hier dauern. Eines steht fest: Solange Sie keinen vernünftigeren Plan
haben, lasse ich Sie nicht weiterziehen, wie Sie das so hübsch umschreiben!«
Sie sahen sich an. Bernina wusste nichts darauf zu erwidern. Als
sie in den folgenden Tagen erneut versuchte, auf dieses Thema zu sprechen zu
kommen, hatte sie nicht mehr Erfolg als beim ersten Mal.
»Sie bleiben!«, war alles, was sie zu hören bekam.
Dann wurde Helene Gräfin zu Wasserhain krank, wie Bernina erfuhr,
und während Bernina wieder einsam weiterlebte, wurde ihr bewusst, dass sie sich
an die runde, gut 40-jährige Dame mit der lauten Stimme gewöhnt hatte. Es wäre
schön, wenn ich mich jetzt mit ihr unterhalten könnte, dachte Bernina, als sie
nach draußen auf die Hecken und Parkwiesen blickte, die sich immer mehr von
ihrer Last aus Schnee zu befreien vermochten.
Die Gräfin tauchte auch an den nächsten Tagen nicht mehr bei ihr
auf, ließ sie aber alsbald einfach zu sich in einen anderen Raum bestellen. Wie
sich herausstellte, handelte es sich dabei um das Zimmer mit den vielen
Büchern, in dem sich Bernina eines verwirrenden Abends um Jakob von Falkenberg
gekümmert hatte.
Einen Moment lang befürchtete Bernina bereits, ihn auch diesmal
hier vorzufinden – und verharrte zögernd auf der Schwelle.
»Kommen Sie nur herein, Bernina«, meldete sich da aber bereits die
Gräfin zu Wort.
Bernina sah sich zuerst ängstlich um, doch Helene Gräfin zu
Wasserhain war tatsächlich allein, und sie fragte sich kurz, ob sie nun froh
darüber war, Falkenberg nicht anzutreffen, oder sogar ein wenig enttäuscht.
Die Gräfin war dabei, sich von einer hartnäckigen Erkältung zu
erholen, und abgesehen von einem leicht fiebrigen Glanz in ihren Augen war
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