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Das Geheimnis der Krähentochter

Das Geheimnis der Krähentochter

Titel: Das Geheimnis der Krähentochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Becker
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sie
schon fast wieder die Alte. Sie saßen sich in schweren, eleganten Sesseln
gegenüber, fast gänzlich umringt von den großen Bücherregalen. Das auffällige
Möbelstück, auf dem der Oberst mit seiner Platzwunde gelegen hatte, war
verschwunden.
    Diesmal stellte die Gräfin kaum Fragen. Sie beschwerte sich über
ihren Mann, darüber mit wie viel Geld er den Krieg des Kaisers unterstützte,
ohne dafür einen Gegenwert zu erhalten, darüber dass er zu oft auf die Jagd
ging, selbst im Winter, und er sich nicht genügend um sie kümmerte, ja dass er
es gar nicht zu schätzen wusste, was für eine großartige Gemahlin er habe.
    Helene zog die Augenbrauen übertrieben weit in die Höhe und gab
Bernina damit zu verstehen, dass sie all das, was sie gerade sagte, selbst
nicht allzu ernst nahm. Sie lachten sich an und schwiegen dann. Die Stille
verleitete Bernina fast dazu, nach dem Oberst zu fragen, doch im letzten
Augenblick schluckte sie ihre Worte herunter. Es wäre ihr peinlich gewesen, und
sie konnte sich die spöttische Reaktion der Gräfin lebhaft vorstellen.
    Die Bibliothek wurde zum Treffpunkt der beiden so
unterschiedlichen Frauen. Gelegentlich schlenderten sie auch zusammen durch den
Palast. Die Gräfin sagte hier und da etwas zu den verschiedenen Räumen. Sie
begegneten niemandem auf ihren Wegen, und Bernina bekam erst jetzt so richtig
das Gefühl dafür, wie groß dieses Gebäude wirklich war – in jedem Falle
das größte, in dem sie sich jemals befunden hatte. Außerdem musste sie daran
denken, was für ein komisches Bild sie beide abgeben mussten. Die eine
kurzbeinig und breit, mit flinken Schritten, die andere groß und schlank, mit
langen anmutigen Schritten, die keineswegs zu ihrer Herkunft passten.
    Weitere Nachmittage in der Bibliothek folgten. Die beiden Frauen
nahmen sich Handarbeiten vor und unterhielten sich dabei. Bernina erwies sich
als praktischer, ein Erbe aus ihrer Zeit auf dem Petersthal-Hof, die Gräfin als
eher verspielt, kunstvoller. Sie stickten, verzierten Stich um Stich
Tischdecken, Schals, Umhänge. Einmal überraschte Helene Bernina mit zwei
Holzflöten, und sie brachte ihr Melodien bei, die ihr vor vielen Jahren wiederum
von einem Kindermädchen gelehrt worden waren.
    Bernina lernte schnell. Bald gelang es ihr sogar, ein paar jener
Lieder nachzuspielen, die sie bei den Gauklern oft gehört hatte. Schmerzliche
Erinnerungen wühlten sich damit wieder an die Oberfläche, die Gräfin verstand
es allerdings, die junge Freundin abzulenken. Mit einer neuen Melodie, einer
lustigen Anekdote oder einer weiteren Stickerei. Die beiden Frauen lachten viel
oder sie schwiegen ganz einfach gemeinsam, während sich vor dem Fenster der
Winter immer noch dagegen wehrte, vertrieben zu werden.
    So vergingen Berninas Tage nach der langen Zeit der stumpfen
Leblosigkeit, entspannt und meistens in gelassener, fast heiterer Stimmung,
ohne dass das Böse der Welt sie hätte überfallen können. Sie gab sich Mühe,
geschickter im Sticken zu werden und vor allem nicht allzu viele Fragen an sich
selbst zu stellen – Fragen nach ihrer Zukunft, nach dem, was kommen
mochte, wenn der Winter die Welt nicht mehr in seinen Fängen halten würde.
    So entspannt die Tage verliefen, so wenig entspannt allerdings
gestalteten sich die Nächte für Bernina. Wenn der Palast in Dunkelheit versank
und das Leben innerhalb seiner Mauern zur Ruhe kam, legte sich etwas
Gespenstisches über das einsame Bauwerk. Die Stille, die sich dann ausbreitete
und wie eine unsichtbare Schlange durch die Flure zog, war tief und nachhaltig,
unterbrochen nur von ab und zu aufkommendem Rauschen des Windes.
    Bernina lag da, umhüllt von dieser Dunkelheit, von dieser Ruhe,
tief vergraben in der kostbaren Bettwäsche. So weich und bequem hatte sie nie
in ihrem Leben die Nächte verbracht, und doch war es gerade die Vergangenheit,
die diese Nächte oft so unheimlich machte. Und auch hier im Palast, fernab von
den Gegenden, in denen sie aufgewachsen war, hatte Bernina wieder das Gefühl,
das sie schon von früher kannte: dass die vergangene Zeit nicht wirklich
vorüber war, sondern weiterlebte, Bestand hatte und in die Gegenwart sickerte.
    Die Albträume in jener nun schon recht lange zurückliegenden
ersten Nacht im Palast, bevor Melchert Poppel sich auf den Rückweg in den Krieg
gemacht hatte, waren für Bernina bloß ein Vorgeschmack auf viele Träume
gewesen, die folgen sollten, noch schlimmere, weitaus beängstigendere. Wieder
und wieder wurde

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