Das Geheimnis der Krähentochter
Bernina von Geräuschen und Gesichtern heimgesucht, von
merkwürdigen Wahrnehmungen und Bildern, die zunächst ganz klar und deutlich
waren, beim Erwachen jedoch verblassten und sich in Nebelschwaden auflösten.
Erst wenn sich das Morgengrauen mit fahlen Lichtschleiern in ihr Zimmer stahl, fiel
es Bernina leichter, in einen sanften Schlaf ohne Geister und Dämonen zu
finden.
Die sinkenden Temperaturen und die seltener werdenden Unwetter
sorgten dafür, dass der Weg zum Palast wieder öfter befahren wurde. Nicht nur
von Wagen, die Nachschub für die großen Vorratskammern lieferten, auch von
Freunden und Bekannten des Grafenpaares. Man fand sich in Salons im hinteren
Bereich des Erdgeschosses zusammen, plauderte miteinander, diskutierte über
Politik, lauschte den Melodien des Spinetts, das von der Gräfin persönlich
gespielt wurde.
So sehr sie sich anfangs noch dagegen sperrte, war es Bernina doch
nicht möglich, sich von diesen Gesellschaften fernzuhalten. Was natürlich an
Helene lag, die sie auch längst nicht mehr Gräfin nannte, sondern mit ihrem
Vornamen ansprach. Die Herrin von Schloss Wasserhain ging trotz ihrer nach
außen hin knappen, herrischen Art wiederum sehr feinfühlig vor. Zuerst stellte
sie Bernina nur auf recht ungezwungene Weise einigen ihrer Freundinnen als Gast
vor. Bald darauf drängte sie Bernina vorsichtig, doch einmal einen ganzen Abend
mit ihr und weiteren Besuchern zu verbringen.
Zuerst lehnte Bernina ab. Das kam ihr aber selbst allzu unhöflich
vor, und sie stimmte schließlich zu.
Nie hatte sich Bernina derart unwohl und deplatziert gefühlt. Der
feine Stoff ihres neuen, in einem sanften Grün schimmernden Kleides, das gut zu
ihrem Haar passte, kitzelte auf der Haut. Die Gespräche, die an einer langen,
von etlichen Kerzen erhellten Tafel geführt wurden, prallten an ihr ab. Nur
dank des versteckten aufmunternden Zwinkerns der Gräfin konnte sie durchhalten,
lächeln, und auf die eine oder andere Frage, die an sie gerichtet wurde,
höflich und zurückhaltend antworten.
Hier präsentierte sich eine Sorglosigkeit, die sie so nicht
kannte. Eine andere Welt als die des Krieges. Die Schlachten und Gemetzel, die
Bernina miterlebt hatte, das Blut und die Verletzungen, die Todesängste der
Verwundeten, all das war so weit weg, wirkte an diesem Ort beinahe so, als
hätte Bernina es nur geträumt oder davon gehört.
Die Klänge des Spinetts, gerade aus so unmittelbarer Nähe,
verstärkten noch diesen Eindruck, ebenso das leise Gelächter, der Wein, von dem
Bernina vorsichtig gekostet hatte, und die Puder und Duftwasser, mit denen sich
die Barone, Grafen und Edelmänner und deren Gattinnen parfümiert hatten.
Bernina sog alles in sich auf, mit einer gewissen Distanz zuerst,
und doch auch mit Neugier. Niemand, den sie kannte, hatte bisher Zugang zu
dieser anderen Welt gehabt, und so konnte sie trotz ihrer Zurückhaltung und
Unsicherheit gar nicht anders, als die Einzelheiten bewusst auf sich wirken zu
lassen.
Die Damen der feinen Gesellschaft schenkten ihr manch neugierigen
Blick, betrachteten sie hin und wieder sogar mit offenem Argwohn. Du gehörst
nicht hierher, meinte Bernina in vielen Augen lesen zu können.
Doch das änderte sich mit der Zeit. Die junge Frau achtete noch
mehr darauf, wie sie sich ausdrückte, sich gab, ohne dabei an Natürlichkeit
einzubüßen. Und so schaffte sie es, sich auch in dieser von sich selbst äußerst
begeisterten Gesellschaft zu behaupten. Die zahlreichen Gespräche mit der
Gräfin hatten gewiss ihren Teil dazu beigetragen, dass Bernina gut auf den
Salon und die edlen Damen und Herren vorbereitet war. Was sie Helene auch ganz
offen sagte. »Ohne Sie«, meinte Bernina einmal, »wäre ich wahrscheinlich nach
ein paar Minuten wieder in mein Zimmer geflüchtet.«
»Oh nein«, widersprach Helene sofort mit aller Entschiedenheit.
»Mit mir hat das nicht das Geringste zu tun, meine Liebe. Das liegt ganz allein
an Ihnen.«
Bernina lächelte skeptisch. »An mir? Schmeicheln Sie mir bitte
nicht, Helene.«
»Sie gehen wie eine Dame. Aus Ihren Augen blickt eine Dame. Ihre
Stimme ist die einer Dame.« Die Gräfin verschränkte die Arme vor ihrer üppigen
Brust. »Haben Sie eine Ahnung, wann ich das zuerst gedacht habe? Als Sie in der
Wanne saßen und mir in die Augen sahen, umhüllt von diesem Schaum, der wie der
Schleier einer Braut war.«
Verlegen senkte Bernina den Blick. Sie erwiderte nichts.
»Meine liebe Bernina, ich habe Sie zwar noch nicht
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