Das Geheimnis der Krähentochter
hat, denn wer weiß, womöglich hat der Maler kein …«
»Davon bin ich überzeugt«, fiel Bernina ihm plötzlich ins Wort,
heftiger als gewollt. »Der Maler hat mit Sicherheit ein Vorbild gehabt und
nicht einfach angefangen, eine Fantasie zu malen. Das ist doch immer so, oder?«
Nachdenklich nickte Falkenberg. »Wahrscheinlich haben Sie recht.
Was mich nur wundert, ist die Art, mit der Sie über diese Gemälde sprechen.«
Bernina sah an ihm vorbei zum Kunstwerk. »Das ist nicht einfach zu
beschreiben. Manchmal glaube ich, eine Verbindung zu den beiden Gemälden zu
spüren. Oder zu dem Mädchen. Oder zu dem Maler. Wer weiß.« Ein verlegenes
Lächeln umspielte kurz ihre Lippen. »Ich weiß auch nicht, wie ich es Ihnen
erklären soll. Vermutlich ist es nur Einbildung.«
»Auf jeden Fall sehen Sie sehr schön aus, wenn Sie sich etwas
einbilden, Bernina. Und auch sonst, an jedem Tag, in jedem Augenblick. Das
sagte ich Ihnen ja bereits.« Er holte Luft. »Wie gern würde ich Ihr Gesicht
morgens ansehen, ganz früh, wenn Sie gerade erwachen.«
Bernina senkte den Blick, wusste nicht, wohin sie sehen sollte, so
stark, so kraftvoll spürte sie auf einmal seine Anwesenheit, seine Nähe.
»Ich wollte Sie nicht in Verlegenheit bringen«, entschuldigte er
sich, ebenso sanft wie er eben schon gesprochen hatte.
»Das haben Sie nicht«, antwortete sie, doch es fiel ihr weiterhin
schwer, seinen grauen Augen standzuhalten.
Dieser Moment war anders als alle bisherigen, die Bernina in der
Gesellschaft des Obersts erlebt hatte, ganz anders.
»Verzeihen Sie mir, aber ich kann nicht immer so tun …« Er
suchte nach Worten, und auf einmal wurde seine Stimme heftiger: »Ich kann nicht
immer so tun, als wäre nichts. Als dürfe man nur schweigen. Als wenn …«
Lange sah er in ihr Gesicht, ehe er fortfuhr: »Ich kenne so etwas
nicht. Immer habe ich mir genommen, was ich wollte. Mein Leben lang. Ich kann
nicht rücksichtsvoll sein, ich kann nicht warten.« In seinen Augen war ein
Flackern, ein wildes Lodern, und jetzt erst erkannte sie, dass er tatsächlich
litt. »Nie hat mich jemand abgewiesen«, sprach er weiter, bevor sie etwas
erwidern konnte. »Nie hat mich jemand besiegt oder gar beherrscht. Aber du,
Bernina, du …«
Plötzlich standen sie einander ganz nahe gegenüber, so nahe, dass
sie seine brennenden Augen nur noch klarer sah, seinen Oberkörper an ihrem
fühlte, sein Duftwasser und seine Haut roch. Sie bemerkte, wie trocken seine
Lippen waren.
»Verdammt, Bernina«, sagte er, fast schon wütend der Klang seiner
Stimme, »warum musst du so schön sein. Dieses Haar … wie Honig. Deine
Augen, so dunkel wie der Himmel am Beginn einer Sommernacht. Schon in deinem
einfachen Kleid warst du wie eine Königin, mit diesem Blick, mit dieser
aufrechten Haltung. Und jetzt hier, im Palast. Glaubst du, es war ein Zufall,
der dich zu mir geführt hat?«
Während er gesprochen hatte, waren seine Augen noch näher
gekommen. Sein Blick raubte ihr den Atem, dieser Blick so fest wie der Griff
seiner Hand. »Was glaubst du, warum du hier bist, Bernina? Weil ich dich
erpresst habe, wie du es nanntest? Mein ganzes Leben lang war ich überzeugt
davon, dass es kein Schicksal gibt, dass alles bloßer Zufall ist. Erst du hast
mir die Augen geöffnet.«
Bernina erwiderte nichts.
Falkenberg fuhr sich mit der Zungenspitze über die Lippen. »Und
jetzt weiß ich, dass das Gegenteil der Fall ist: Es gibt keine Zufälle. Es gibt
allein das Schicksal. Und das hat uns zusammengeführt, Bernina.«
Sie sah ihn nach wie vor an, stand nach wie vor da wie erstarrt,
vor ihm, bei ihm, so nah, dass sie beide fast wie ein Körper waren.
Im nächsten Moment legte er seinen rechten Arm um ihren Körper,
verschmolz endgültig mir ihr, er küsste sie, und diesmal lag es nicht in ihrer
Macht, Jakob von Falkenberg zu widerstehen.
Lange küssten sie sich, und dann trennten sie sich voneinander,
mit einem beinahe ebenso langen Blick, nur um sich am nächsten Tag erneut in
dem stillen, leblosen Zimmer mit dem Gemälde zu treffen. Beobachtet nur von dem
hellblau gekleideten Mädchen auf der Leinwand. Und diesmal blieb es nicht bei
einem Kuss.
*
Teile der großen Armeen waren hier und da aufeinandergeprallt,
hatten sich in Scharmützeln gemessen, waren einmal Gewinner, einmal Verlierer
gewesen. Die Hauptstreitkräfte jedoch schlichen nach wie vor um den jeweiligen
Gegner herum, als müssten sie sich nach den vielen Wochen ohne Krieg erst
wieder
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