Das Geheimnis der Krähentochter
Irgendetwas
in ihr schien das Gegenteil zu sagen, schien sie unaufhörlich vor sich
herzutreiben. Vielleicht lag es nur an der langen Tatenlosigkeit. Vielleicht
steckte aber auch mehr dahinter, eine Ahnung, dass sie gewappnet sein musste
für Dinge, die noch kommen mochten. Solche vagen, unerklärlichen Ahnungen
befielen sie immer wieder, ebenso wie düstere Träume.
Nie wieder hatte sie ihn gesehen, diesen Fremden, nie wieder nach
jener unheimlichen Nacht, als sie ihn an den Birken vorbei in die Finsternis
galoppieren sah. Die Erinnerung daran war stark, mächtig. Sie erinnerte sich
auch noch gut daran, wie die Krähenfrau ihr damals gesagt hatte, sie solle
niemandem verraten, dass sie vom Petersthal-Hof stamme. Was hatte der Hof in
seinen Mauern verborgen gehalten? Der Hof, den sie kannte, und der Mann, den
sie nicht kannte: Wie gehörten die beiden zusammen?
In einem der letzten Gespräche, das Bernina mit der Krähenfrau
geführt hatte, war herausgekommen, dass der Überfall auf den Hof kein Zufall
gewesen war und dass er nichts mit dem Krieg zu tun hatte. Im Laufe der Zeit
hatte Bernina das beinahe vergessen. Heute allerdings ärgerte sie sich, dass
sie damals nicht weiter gefragt, nicht versucht hatte, der Krähenfrau viel mehr
zu entlocken. Immer wieder ertappte sich Bernina dabei, dass ihre Blicke an den
Hecken des Parks entlangglitten, vor allem wenn die Nacht hereinbrach, mit
langen Schatten, wenn die Kerzen im Schloss nach und nach verloschen und sie
einsam am Fenster ihres Zimmers stand. Doch der Unbekannte tauchte nicht mehr
auf.
Bernina hatte Helene den Mann beschrieben, sehr genau, jedes
Detail, das ihr auf die Entfernung hin aufgefallen war. Sie fragte ihre
Freundin, ob ihr jemals eine solche Gestalt aufgefallen sei, irgendwo,
irgendwann, ob sie je in Erzählungen oder Berichten von solch einem Mann gehört
habe.
Aber Helene hob nur ihre Augenbrauen. »Nein, das habe ich nicht.
So wie du ihn schilderst, kommt er mir fast vor wie ein Gespenst.«
»Er ist aus Fleisch und Blut«, widersprach Bernina hastig. »Ich
habe ihn gesehen. In der Nähe des Schlosses und schon damals im Schwarzwald.«
Und noch einmal, als müsse sie das Gesagte bekräftigen, fügte sie voller
Ernsthaftigkeit hinzu: »Ich habe ihn gesehen.«
»Ich glaube dir, meine Liebe. Aber das klingt alles so sonderbar
für mich. So …« Sie verstummte.
Und Bernina war sich sicher, dass ihre Freundin sie zum ersten Mal
anlog – Helene glaubte ihr nicht. Oder hatte doch zumindest große Zweifel
an Berninas Worten. Auch ihr Gatte, Graf Heinbold, konnte sich keinen Reim auf
die Beschreibung des Fremden machen. Selbst als die Gräfin schließlich ein paar
Männer des Hofpersonals die Gegend durchkämmen ließ, geschah dies nur, um
Bernina zu beruhigen, das spürte sie. Deshalb erwähnte sie den Reiter gegenüber
ihrer Freundin nie mehr. Aber sie blieb wachsam.
Auch das Gemälde hatte nichts an Faszination eingebüßt. Inzwischen
allerdings machte sich Bernina nicht mehr bloß deswegen auf den Weg hierher.
Der Oberst und sie trafen sich in dem Zimmer.
Begleitet von Stille und einer seltsamen Spannung, in ihrer beiden
Gesten lag zunächst noch etwas Harsches, als wären sie hier zu einem Duell,
doch in ihren wie in seinen Augen hatte sich längst die Schärfe aufgelöst, die
ihre ersten Begegnungen beherrscht hatte.
Die Worte ›Ich liebe dich‹ hatte Jakob von Falkenberg nie mehr
gebraucht, aber sie sah es an seinen Blicken. Er war nicht mehr der Falkenberg,
der ihr in Ippenheim und auf der Flucht aus der Stadt gegenübergetreten war,
dieser selbstverliebte Kerl, der sie von oben herab behandelte. Sein Wesen
hatte sich verändert.
Oft hatte Bernina über dieses eine Gespräch mit ihm nachdenken
müssen, als er ihr seine Liebe gestanden hatte. Zuerst hatte sie ihm nicht
geglaubt oder nicht glauben wollen, es als eine seiner Stimmungen abgetan, dann
jedoch … Mit der Zeit war Bernina sich keineswegs mehr so sicher. Wäre er
zudringlich geworden wie einige Mal zuvor, hätte er versucht, sie zu
beherrschen, sie gegen ihren Willen zu küssen und noch mehr zu verlangen als
Küsse, wäre es ihr leichter gefallen, ihn zu ignorieren, ihn völlig aus ihren
Gedanken zu verbannen.
Doch er hatte nichts Dergleichen getan. Und so zog es sie immer
wieder dorthin, hin zu ihm. Bei einem dieser Treffen sprach sie ihn auf das
Gemälde an, das das Zimmer dominierte.
»Erinnern Sie sich daran«, begann sie, »dass Sie mir damals in
Ippenheim
Weitere Kostenlose Bücher