Das Geheimnis der Krähentochter
denselben Wegen, die
sie schon seit Jahren kannte. Die Nachrichten, die sie aus der Umgebung
mitbrachte, blieben immer die gleichen. Der Krieg hielt das Land unnachgiebig
in seinem gnadenlosen Griff gefangen.
Häufig dachte Bernina über die Unterhaltungen nach, die sie mit
der Krähenfrau geführt hatte. Einerseits war sie dankbar dafür, was Cornix für
sie tat. Und auch deren manchmal schüchterne, aber doch spürbare Zuneigung war
etwas, das Bernina guttat – sie selbst hatte die Frau längst ins Herz
geschlossen. Auf der anderen Seite glaubte Bernina nach wie vor, dass Cornix
ihr nicht immer die Wahrheit sagte. Es war unmöglich, sie zu durchschauen.
An einem jener besonders warmen Tage, die
fast schon die Kraft des Hochsommers besaßen, ließ sich Bernina an einem Bach
unweit der kleinen Lichtung nieder, um ein wenig Wasser zu trinken. Sie saß am
Rande des plätschernden Wassers, umhüllt vom Wald, und dann machte sie das, was
sie immer wieder tat, seit sie sich zum letzten Mal auf dem Petersthal-Hof
aufgehalten hatte. Vorsichtig, damit sie keinen Schaden anrichtete, zog sie die
Skizze hervor, auf die sie in dem Zimmer im oberen Stockwerk gestoßen war.
Ganz aufmerksam, wie bei ihrem ersten Blick darauf, betrachtete
sie die Zeichnung, deren sanfte, aber doch ausdrucksstarke Striche sich zu
einem hübschen kleinen Mädchen zusammenfanden.
Da Cornix immer so zornig reagierte, wenn Bernina den
Petersthal-Hof erwähnte, hatte sie ihr die Skizze noch nicht gezeigt. Und sie
würde es wohl auch nicht tun. Sie war Berninas Geheimnis – so wie die
Krähenfrau offenbar ihre eigenen Geheimnisse hegte und pflegte.
Die Zeichnung, so einfach sie auch sein mochte, hatte auf Bernina
eine Wirkung, die sie sich selbst nicht erklären konnte. Es war, als stünde das
gezeichnete Mädchen für viele Dinge, mit denen sich Berninas Gedanken in all
den zurückliegenden Jahren nie beschäftigt hatten. Es schien ihr zu sagen, dass
die Welt voller Rätsel und das Leben nicht so übersichtlich war, wie Bernina
bislang angenommen hatte.
Die Zeit auf dem Petersthal-Hof hatte ihr ein Gefühl der Klarheit
gegeben. Wie man seinen Alltag bestritt, wie man sich anderen gegenüber
verhielt, alles war eindeutig, alles war geregelt. Morgens stand man mit guter
Laune auf, man kannte die Dinge, die der Tag bringen würde, und abends schlief
man zufrieden ein. Einfach alles war so klar.
Doch Bernina hatte sich offensichtlich geirrt. Sie wusste nichts
von der Welt und deren Bedrohungen. Das hatte sie seit dem Überfall begriffen.
Verloren in diesen Gedanken, ließ sie die Zeichnung langsam wieder
zwischen den Stoffen von Kleid und Unterkleid verschwinden, sodass das Papier
geschützt war und weiterhin vor Cornix verborgen blieb. Sie erhob sich –
und dann war es genau wie am Tag des Überfalls auf den Hof. Wie in jenem
Augenblick, als die ersten Schüsse fielen. Alles in Bernina erstarrte. Wie
gelähmt war sie. Allein in ihren Augen, die überrascht und ängstlich zuckten,
schien noch Leben zu sein: zwei Männer.
Geräuschlos hatten sie sich ihr genähert.
Trotz ihres groben Schuhwerks, trotz ihrer weiten großzügig geschnittenen
Hemden mit den gebauschten Ärmeln mussten sie sich ganz leise im Unterholz des
Waldes bewegt haben. Sie grinsten. Dunkel ihr Haar, dunkel die Haut ihrer
Wangen, aus denen Bärte sprossen.
»Wen haben wir denn da?«, fragte einer der beiden, mit einem
Akzent, der Bernina fremd war.
Noch immer war sie wie versteinert. Die Schreckensbilder des
Überfalls nahmen vor ihrem inneren Auge Gestalt an, beinahe glaubte sie,
Hildegards Schreie von Neuem zu hören.
»He, Kleine, bist du stumm?«
Sie brachte keinen Ton über die Lippen.
»Was für ein reizender Käfer.« Nun war es der andere der beiden,
der redete.
Aber Bernina achtete nicht darauf. Sie nahm all ihren Mut zusammen
und machte sich bereit loszulaufen, visierte schon die Stelle zwischen zwei eng
beieinanderstehenden Bäumen an, durch die sie versuchen würde zu entkommen.
»Kleine, nun lass doch mal deine Stimme hören.«
Jetzt.
Sie rannte los, sprang geschmeidig über den Bach hinweg, auf die
beiden Bäume zu, so schnell sie nur konnte.
Aus den Augenwinkeln nahm sie wahr, wie verdattert die beiden
Fremden aussahen. Sie schienen so überrascht zu sein, dass sie keinerlei
Anstalten machten, die Verfolgung aufzunehmen. Zwischen den beiden Stämmen
jedoch tauchte plötzlich eine dritte Gestalt auf. Ein weiterer Mann, dessen
Arme Bernina mit
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