Das Geheimnis der Krähentochter
Eindruck machten. Auch
schienen ihre Pferde mager und ziemlich ausgezehrt zu sein. Der Anblick
erinnerte sie an etwas. Und in ihrer Furcht dauerte es, bis sie darauf kam, was
in ihrem Gedächtnis wühlte: die Erinnerung an einen Frühlingsmorgen im
Schwarzwald, an seltsame Nebelfetzen, die um den Petersthal-Hof schwebten, an
den Lärm vieler Musketenschüsse und an die verzweifelten Schreie der Opfer.
Wieder ertönte die Stimme des Soldaten, der zuletzt gesprochen
hatte, diesmal ein wenig zurückhaltender: »Herr Graf. Hier ist sie. Hierher,
Herr Graf.«
Welcher Graf?, pochte es in Berninas Schädel.
Die eben eingetroffenen Männer stoppten ihre Pferde und bildeten
dabei eine unregelmäßige Gasse, durch die sich jetzt ein weiterer Reiter
näherte, aufreizend langsam.
Bernina spürte nichts mehr, fühlte nichts mehr, merkte nicht
einmal, dass die Hände der Soldaten von ihr abließen.
Der Mann zügelte sein Pferd und glitt aus dem Sattel. Wiederum
ohne Eile kam er nun auf sie zu. Sein schwarzer Umhang rahmte ihn ein, das
lange silberweiße Haar unter dem Hut umwehte sein schmales Gesicht beinahe wie
ein Schleier. Silberweiß auch Schnurr- und Kinnbart.
Er blieb stehen, eine große schlanke Gestalt.
In Bernina war alles kalt, wie abgestorben. Ihr Herz schien nicht
mehr zu schlagen.
Eine tiefe Stille hatte sich in diesem Waldstück ausgebreitet.
Keiner der Soldaten äußerte etwas. Ihre Blicke ruhten auf Bernina.
Nur um nicht mehr so wehrlos vor ihm zu liegen, erhob sie sich und
verdrängte dabei das Zittern in ihren Beinen.
Der Mann betrachtete sie.
Doch trotz ihres Schreckens ließ Bernina es nicht zu, dass sich
ihre Augen vor ihm senkten. Er war groß, überragte sie um Kopfeslänge. Sie
musste zu ihm aufsehen, aber das tat sie, ohne dass sie ihre Angst offenbar
werden ließ.
Sein Gesicht war undurchdringlich. Ohne den Blick von Bernina zu
lösen, befahl er den Soldaten: »Männer, wir brechen auf.« Seine Stimme war
leise und erfüllt von einer rauen, knirschenden Heiserkeit.
Bernina schluckte. Ihr Mund war geschlossen. Immer noch war alles
in ihr wie erstarrt, alles kalt.
So kalt wie diese Eiskristallaugen, die sie zu durchdringen
schienen und die sie in vielen schrecklichen Träumen heimgesucht hatten. Die Augen
des Bösen.
*
Das Heu unter ihr stank faulig. Die Holzbretter, aus denen der
Kastenwagen gezimmert worden war, in dem sie lag, gaben dagegen gar keinen
Geruch mehr ab. Sie waren morsch und alt und rissig, als könnten sie einfach in
sich zusammenfallen. Und doch waren sie unüberwindlich für Bernina. Ebenso wie
die schmale, niedrige, mit einem schweren Schloss verriegelte Öffnung, die als
Tür diente.
Der Wagen, der von zwei Eseln gezogen wurde,
war ihr Gefängnis. Und das schon seit zwei Tagen, seit jener Mittagsstunde, in
der diese Männer Eusebio getötet hatten. Warum haben sie mich nicht auch
getötet?, fragte sich Bernina immer wieder. Eine Frage, die zu vielen anderen
führte, die sie marterten. Was hat dieser Graf vor? Warum drang er damals auf
so unbeschreiblich brutale Weise in mein Leben ein und warum verfolgt er mich?
Diese Ungewissheit. Sie zerrte unerbittlich an den Nerven.
Was will er nur von mir? Wer ist er?
In der Tür des Wagens befand sich eine kleine Öffnung, kaum größer
als eine Spielkarte, ansonsten kein Fenster, keine Luke. Es war die einzige
Möglichkeit für Bernina, hin und wieder einen Blick nach draußen zu werfen.
Doch eine Orientierung war nicht möglich. Sie wusste nicht einmal, in welcher
Richtung der Wagen und die Reiter unterwegs waren und wie weit sie sich schon
von den Ländereien rund um Schloss Wasserhain entfernt hatten.
Dennoch erhob sie sich gelegentlich von dem muffigen Heu, einfach
um sich zu bewegen und die Glieder zu strecken. Und dann spähte sie auch immer
wieder durch die winzige Öffnung. Der Wagen hielt die Spitze dieses
rätselhaften Zuges, die Soldaten auf ihren mageren Pferden blieben dicht
dahinter. Ihnen voran ritt der Graf.
Jedes Mal, wenn Bernina vorsichtig aus der Öffnung sah, blickte er
sie an. Als würde er durch die groben Holzwände im Wageninneren jede einzelne
ihrer Bewegungen verfolgen können.
Doch wie schon zwei Tage zuvor schaffte es Bernina, diesen Augen
standzuhalten. Wenn sie dann wieder auf dem Heu saß, den Rücken ans Holz
gelehnt, tastete sie diesen Mann immer noch mit Blicken ab. Niemals war sie
einem derart gespenstischen Menschen begegnet, nicht einmal inmitten der
höllischen Schlachten, die
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