Das Geheimnis der Krähentochter
Tagen war der
Himmel wolkig, ein trübes weißlich graues Meer. Es war kalt.
Ein plötzliches lautes Geräusch an der Tür ließ sie aufschrecken.
Der Riegel wurde zurückgeschoben – und Bernina fuhr herum.
Sie wollte keine Angst zeigen, genau wie am Tag zuvor, und doch
zog sie sich ungewollt bis an die Wand zurück, drückte ihren Rücken dagegen.
Die Tür ging beinahe so aufreizend langsam auf wie in ihrem Traum.
Bernina schluckte. Unbewusst ballte sie ihre Hände zu Fäusten. Sie wappnete
sich, nun dem Mann in der schwarzen Kleidung gegenüberzustehen. Aber der Graf
erschien nicht.
Auf den ersten Blick war es kein Mann, der sich durch den Rahmen
quetschte, sondern ein wahres Ungetüm, ein Riese, der den Kopf tief einziehen
musste, um hineinzugelangen. Gewaltige Massen aus Fleisch, Schultern wie
Felsen, Hände wie Pfannen, dazu ein wallender Vollbart, der das Gesicht beinahe
vollständig verschwinden ließ und fast bis zum Gürtel reichte. Darin steckte
eine Axt, wie Bernina sie hier und da bei den Soldaten der Armee gesehen hatte,
mit kurzem Schaft und gekrümmter Schneide. Eine dieser großen Hände ruhte auf
der Axt.
Der Riese blieb stehen. Klein an ihm waren allein die Augen über
dem Bartgeflecht und unter dem wild verstrubbelten Haar, winzige Punkte, die
sich nun auf Bernina richteten.
Er zog die Axt aus dem Gürtel und schlug sie in das Holz des
Türrahmens, sodass ihr Schaft in der Luft wippte.
Bernina zuckte zusammen, presste sich noch heftiger an die Wand.
Der Blick, den er ihr zuwarf, war bösartig. Er deutete kurz auf
die Axt. Dann griff der Riese nach hinten und hob etwas auf, das er zuvor auf
dem Boden abgestellt hatte. Ein Tablett. In seinen Pranken verschwand es
geradezu. Langsam trat er an Berninas Bett, platzierte das Tablett darauf, um
dann wieder zu verschwinden, nicht ohne seine Waffe aus dem Rahmen zu ziehen.
Der Riegel schob sich vor die Tür. Schwere Schritte entfernten sich. Dann
herrschte Stille.
Bernina atmete auf. Und auch wenn sie es am liebsten gar nicht
beachtet hätte, wandte sie sich dem Tablett zu. Darauf stand eine Schüssel, aus
der würziger Duft aufstieg – er erinnerte sie daran, wie hungrig sie war.
Trotz ihrer Situation, trotz der Ungewissheit.
Und wider Erwarten schmeckte der
Fleischeintopf sehr gut, sie aß mit Appetit. Im Zimmer wurde es dunkler. Ein
leichter Nieselregen hatte eingesetzt. Von den Männerstimmen war nichts mehr zu
hören. Bernina richtete sich auf und sah, wie einige der Männer auf ihren
Pferden die Festung verließen. Wieder diese trügerische Stille, in der Bernina
auf den Grafen wartete. Etwas musste doch nun passieren, er musste etwas
vorhaben, sonst hätte der Reiter sie nicht hierher verschleppt. Irgendwann und
irgendwie musste er seine Absichten enthüllen.
Am späteren Abend war es abermals der Riese, der in das Zimmer kam.
Er nahm das Tablett wieder mit, sandte ihr einen weiteren bösartigen Blick zu
und versorgte sie außerdem mit etwas Gebäck. Seine Axt beließ er diesmal im
Gürtel. Dann zwängte er sich erneut durch den Türrahmen.
Wie zuvor stand Bernina mit ihrem Rücken zur Wand und die Spannung
löste sich erst allmählich. Dennoch war ihr die Situation mit diesem Mann nun
nicht mehr ganz so gefährlich vorgekommen, sie schien eher etwas Groteskes
gehabt zu haben, vor allem in jenem Moment als er eine Holzschale mit Gebäck auf
das Bett gestellt hatte. Ein Riese, der Süßes brachte. Mit neuem Mut nahm sie
sich vor, sich diesem Kerl gegenüber weitaus weniger eingeschüchtert zu zeigen.
Doch diesen Mut zu bewahren, war gar nicht so leicht. Die Nacht
brach herein, eine dumpfe Dunkelheit ergoss sich in den Raum. Einmal meinte
Bernina das Krächzen von Krähen zu hören. Während sie schlaflos in der
Finsternis ihres Zimmers auf und ab ging, musste sie an Eusebio denken. Ohne
ihn hätte sie nichts über Anselmo erfahren. Was für eine Welle der
Erleichterung und des Glücks in diesem Moment über sie hinweggeschwappt war.
Und jetzt? War Anselmo bereits verloren, bevor sie ihn zurückgewonnen hatte?
Das durfte einfach nicht sein. Sie brauchte
Entschlossenheit und Zuversicht. Sie musste es schaffen, zu Anselmo zu
gelangen. Der Gedanke an ihn war das Einzige, das ihr selbst hier Kraft gab.
Sie musste ihn wiederfinden. Eusebio hatte sein Leben dafür gegeben, dass sie
und Anselmo zusammenkamen. Nicht nur für sie beide musste sie Anselmo finden.
Auch für Eusebio.
Die Nacht schien sich endlos dahinzuziehen. Am Morgen kehrten
Weitere Kostenlose Bücher