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Das Geheimnis der Krähentochter

Das Geheimnis der Krähentochter

Titel: Das Geheimnis der Krähentochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Becker
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Vorratskammer. Und das eigentliche Festungsgebäude, das sich
förmlich an die Schutzmauer presste, als würde es ohne Mauer einstürzen.
    Das schwarze Pferd des Grafen stand davor, angebunden an einen
Pfosten. Offenbar war der Mann vorausgeritten, ohne dass Bernina es bemerkt
hatte. Das Gebäude war fast so breit wie das Mauerviertel, das ihm Halt bot.
Dreistöckig türmte es sich auf, mit zahlreichen Erkern und einer Vorhalle. Aus
dem Dach stach an jeder Ecke ein spitzer Turm hervor. Bernina erschauerte vor
Furcht. Es war ein unheilvoller Ort, an dem nie Sommer gewesen zu sein, von dem
es keine Rückkehr zu geben schien. Erst jetzt wanderte ihr Blick zu der Flagge.
Zerschlissen und ausgebleicht von der Sonne vieler Jahre hing sie an einem
Mast, der sich etwas schräg von einem der Spitztürme dem Himmel entgegenreckte.
Genau in diesem Moment, wie von Zauberhand gelenkt, ließ sich ein Wind
herantragen, um den Stoff der Flagge zu ergreifen und sie mit einem
schmatzenden Geräusch aufzublättern.
    Wie gebannt starrte Bernina nach oben.
    Der Wind ließ die Flagge wehen, deren hellblaue Farbe nicht mehr
sehr kräftig, aber dennoch klar zu erkennen war. Auf dem hellblauen Untergrund
prangten zwei Symbole. Ein Schwert, dessen Spitze auf eine Blume wies.
     
    *
     
    Das Zimmer war erfüllt von einem eigenartigen Nebel. Die
zerrissenen Schwaden reichten fast bis zur Decke, und die Tür auf der
gegenüberliegenden Seite war gerade noch als dunkler Schemen zu erkennen.
Stille, eine tiefe Ruhe, der Raum schien irgendwo fernab vom Rest der Welt zu
sein. Die Tür öffnete sich. Völlig geräuschlos, sehr langsam. Eine Gestalt
schlüpfte herein, eine schlanke Gestalt. Bernina blinzelte, ihre Lider wogen
schwer, waren wie aus Stein. Sie lag auf dem Rücken und richtete sich ein wenig
auf, stützte sich auf einen Ellbogen.
    Die Gestalt kam auf sie zu, und sie fühlte, wie ihr Herz auf
einmal heftig gegen ihre Brust schlug. Nicht aus Angst, sondern vor Freude.
    Es war Anselmo. Er schob sich aus dem Nebel, war nun bei ihr, ganz
nahe, er kniete sich hin, und sie streckte eine Hand nach ihm aus, fassungslos
vor Freude. Und dann der Schock. Sie sah den Messergriff, der aus seiner Brust
ragte und das Blut, das sein Hemd getränkt hatte. Ihre Hand berührte das
Messer, sie fühlte den Holzgriff, und im nächsten Moment war sie wach. Hellwach
und vollkommen durcheinander.
    Anselmo war nicht mehr da, die Nebelfetzen hatten sich aufgelöst.
Nur das Zimmer war Wirklichkeit, dieses Zimmer, in dem sie sich seit gestern
Nachmittag befand. Sie erhob sich von dem einfachen Bettgestell, auf dem eine
alte Strohmatratze lag. Erschöpfung und Müdigkeit hatten sich am Ende doch
durchgesetzt. Irgendwann in der Nacht war sie in einen unruhigen Schlaf
gefallen. Jetzt musste es früher Morgen sein.
    Bernina trat an das einzige Fenster dieses Raumes, in dem es
nichts gab außer dem Bett und nackten Steinwänden. Er war in einem der vier
Türme gelegen. Schräg darunter zog sich die Schutzmauer entlang. Die
Glasscheibe des Fensters ließ sich nicht öffnen. Es war zwar klein, gab ihr
aber trotzdem Sicht auf den größten Teil des Festungshofes. Sie sah den Turm
mit der wehenden hellblauen Flagge, den heruntergekommenen Pferdestall und auch
die Vorhalle, durch deren Eingang sie gestern von zweien der Männer geführt
worden war. Ohne dass sie dem Grafen noch einmal begegnet war, hatte man sie in
das Zimmer gebracht und die schwere Holztür von außen mit einem mächtigen
Eisenriegel versperrt.
    Vor dem Fenster gab es kein Eisengitter, und
Bernina versuchte den Abstand zur Mauer abzuschätzen. Selbst wenn es ihr
gelänge, das Glas zu zerstören und ihren Körper durch die winzige
Fensteröffnung zu zwängen, würde sie sich bei einem Sprung auf die Mauer gewiss
mehr als einen Knochen brechen. Die Mauer lag zu weit unterhalb ihres neuen
Gefängnisses. Das Zimmer war eine Falle, aus der es offenbar kein Entrinnen
gab.
    Von irgendwoher drangen Stimmen zu ihr. Männerstimmen, Lachen und
immer wieder ausgelassenes Geschrei, als würden Trinksprüche ausgerufen. Ein
Lied wurde angestimmt, das in neuerlichem Gelächter endete. Die Soldaten oder
Söldner oder Verbrecher, was immer sie sein mochten, schienen sich einem
ausgesprochen frühen Gelage hinzugeben.
    Bernina ließ ihren Blick über die Festung hinweg wandern. Doch da
war nichts zu entdecken: Sie sah nur einen Wald, der die hügelige Landschaft
scheinbar bis ins Endlose überzog. Zum ersten Mal seit vielen

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